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SCHREIB Waren: Sinn und Zorn

Steffen Richter über den jüdischen Selbsthass

Manche Sätze klingen, als hätte man sich verhört. Einer geht so: „Aus dem Antisemitismus könnte schon was werden, wenn sich nur die Juden seiner annehmen würden.“ Gesagt hat das Alexander Roda Roda, jüdischer Satiriker und Journalist in der k. u. k. Monarchie. Für diese Haltung gibt es einen Begriff: „jüdischer Selbsthass“. Der ist allerdings genauso vergessen wie der Mann, der ihn systematisch beschrieben hat: Theodor Lessing.

Lessing (1872–1933) war ein philosophisch-historischer Schriftsteller und vor allem ein Meister der kleinen Form wie Essay und Feuilleton. Er war aber auch ein recht eigensinniger Kopf, der so unterschiedliche Zeitgenossen wie Thomas Mann oder Joseph Goebbels gegen sich aufbringen konnte. Als sein Buch „Der jüdische Selbsthass“ 1930 erschien, war es bereits müßig geworden, sich ausgerechnet mit der jüdischen Variante zu beschäftigen. Das Monopol auf Antisemitismus hatten da schon die Nazis inne, von denen Lessing 1933 erschossen wurde. Jüdischer Selbsthass – „dem Boden fluchen, darauf man wachsen muss“ – sieht die Ursache für jüdisches Unglück in einer eigenen Schuld und versucht so, diesem Unglück einen Sinn zu verleihen. Die Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen – das ist Lessings beliebteste Denkfigur. Nach Jahrhunderten der Verfolgung und dem immer wieder durchkreuzten Willen zur Zugehörigkeit ist das kaum verwunderlich. Dass diese kulturelle Disposition auch in der Gegenwart wunderliche Blüten treibt, dass es „Jüdischen Selbsthass von Marx bis heute“ gibt, wird der Publizist Henryk M. Broder am 14.4. (19 Uhr 30) im Jüdischen Museum erklären (Lindenstraße 9–14, Kreuzberg).

Lessings weitgehend vergessenes Buch und andere seiner Schriften sind bei Matthes & Seitz Berlin wieder aufgelegt. Sie passen ins Verlagsprofil. Das stand seit der Gründung 1977 für kluge, aufklärungsskeptische Prosa, insbesondere aus der Feder französischer Avantgardisten von Antonin Artaud bis Georges Bataille. Doch seit Andreas Rötzer den Verlag vor vier Jahren aus München nach Berlin umziehen ließ und hier neu gründete, hat sich einiges geändert. Der Anteil lebender Schriftsteller ist in den letzten Jahren sprunghaft gestiegen. Mit seinem wichtigen Belletristikautor Michael Roes und dem Essayisten sowie „Sinn und Form“- Chefredakteur Sebastian Kleinschmidt ist Rötzer am 9.4. (20 Uhr) in der Literaturwerkstatt zu Gast (Knaackstraße 97, Prenzlauer Berg). Dass Matthes & Seitz Berlin auf der Leipziger Messe den Kurt-Wolff-Preis für unabhängiges Verlegen bekommen hat, spricht auch Bände.

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