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SCHREIB Waren: Auch Zeit kann man kaufen

Angesichts der politischen Themen, die diese Woche bewältigt werden wollen, bleibt kaum Zeit für die schöne Literatur – es sei denn, Sie könnten sich welche kaufen. Da wären wir schon beim Thema: Machen Sie’s doch wie der Kapitalismus.

Angesichts der politischen Themen, die diese Woche bewältigt werden wollen, bleibt kaum Zeit für die schöne Literatur – es sei denn, Sie könnten sich welche kaufen. Da wären wir schon beim Thema: Machen Sie’s doch wie der Kapitalismus. Der kauft sich nämlich ständig Zeit, um seine Krisen zu verschleiern und zu verschleppen. Wie dies vonstatten geht, hat Wolfgang Streeck, Direktor am Kölner Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung und Professor für Soziologie an der Universität zu Köln, in seinem viel beachteten Buch „Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ analysiert. Er lokalisiert die Wurzel der gegenwärtigen Übel in den siebziger Jahren. Damals wurde dem „Spätkapitalismus“ ein schnelles Ende vorhergesagt. Irrtum. Statt zusammenzubrechen, expandierte er in großem Maßstab. Dies hatte seinen Preis: Inflation, Staats- und Privatverschuldung, den gegenwärtigen Höhepunkt bildet die Banken- und Fiskalkrise. Mit der Finanzwirtschaft als neuem, politisch direkt Einfluss nehmendem Akteur gerät nun auch die Koexistenz von Demokratie und Kapitalismus in die Krise. Die Buchpremiere ist am Dienstag in der Hertie School of Governance (18 Uhr, Friedrichstr. 180).

Ebenfalls von politischem Interesse und ebenso aktuell ist die mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung prämierte Studie „Europa erfindet die Zigeuner“ des Literaturwissenschaftlers Klaus-Michael Bogdal, die er am Donnerstag im Literaturforum des Brecht-Hauses vorstellt. Bogdal analysiert das Wechselspiel aus Verachtung und Romantisierung, dem die Romvölker ausgeliefert waren und sind. Das Buch ist auch angesichts gegenwärtiger Debatten ein notwendiges Korrektiv, das zeigt, wie sich nationale Identitäten und Mehrheitsgesellschaften durch ausgegrenzte „Andere“ bilden und stabilisieren (20 Uhr, Chausseestr. 25).

Und jetzt noch ein Krimi zur Entspannung? Da bietet sich „Kornblumenblau“ von Christian Schünemann und Jelena Volic an. Wer allerdings zum Buch greift, weil der Titel Poetisches suggeriert, irrt. Gemeint ist die Uniformfarbe einer serbischen Eliteeinheit. Schon ahnt man, dass auch hier die Politik eine Rolle spielt. Die Ermittlung in diesem Fall, der sich um zwei tote Soldaten dreht, die als angebliche Sektenmitglieder Selbstmord begangen haben sollen, führt mit Milena Lukin eine Spezialistin für internationales Strafrecht – ein Hinweis, dass es um zeitgeschichtlich inspirierte Gräuel gehen könnte. Doppelt genäht hält besser: Das Autorenduo liest am Donnerstag im Verein Südost Europa Kultur (18 Uhr, Großbeerenstr. 88) und am Freitag in der Krimibuchhandlung Miss Marple (19.30 Uhr, Weimarer Str. 17).

Wer wählen kann, wann wer was tut, der muss keine Zeit kaufen, sondern hat meistens welche gewonnen.

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