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SCHREIB Waren: Liebe und Luftnot

Es ist eine Kindheit, die kein Autor sich zu erfinden traute. Nachdem seine Eltern während des Krieges und den Jahren danach vier Söhne verloren haben, kommt Hanns-Josef Ortheil 1951 als fünftes und letztes und zugleich wieder erstes Kind zur Welt.

Es ist eine Kindheit, die kein Autor sich zu erfinden traute. Nachdem seine Eltern während des Krieges und den Jahren danach vier Söhne verloren haben, kommt Hanns-Josef Ortheil 1951 als fünftes und letztes und zugleich wieder erstes Kind zur Welt. Die Trauer der Eltern, das Glück über den einzig Lebenden und die Angst, auch ihn zu verlieren, lässt sich kaum vorstellen. Die Mutter war so traumatisiert, dass sie aufgehört hatte zu sprechen, behielt das Kind zugleich in enger Nähe, so dass der Junge in einem intimen sprachlosen Raum aufwuchs, in den nur wenig aus der Außenwelt drang. Der Vater war der einzige, der sprach, denn auch der Junge blieb stumm und redete bis zu seinem Schuleintritt kein einziges Wort – dafür spielte er Klavier.

Wieso Hanns-Josef Ortheil dann doch nicht auf der Sonderschule landete (wo ihn die Lehrer schon sahen) und kein Pianist (was er vorhatte), sondern Schriftsteller wurde, davon erzählt er in seinem autobiografischen Roman „Die Erfindung des Lebens“, den er am Mittwoch, dem 25.1., im Literarischen Colloquium vorstellt (20 Uhr, Am Sandwerder 5).

Eine enge Beziehung zur Mutter hatte auch Wolfgang Hilbig, der bis ins Erwachsenenalter hinein gezwungen war, im Bett der Mutter zu schlafen. Anders als Ortheil hatte Hilbig keinen Vater, der in dieser Situation, wie Ortheil schreibt, „die Notbremse“ gezogen und für einen bodenhaftenden Kontakt mit der außermütterlichen Wirklichkeit gesorgt hätte. Das Verhältnis Hilbigs zu Frauen blieb schwierig. Das Leben des sprachmächtigen Autors, der im letzten August 70 Jahre geworden wäre, war überschattet von Bindungslosigkeit und Alkoholsucht. In Siegfried Ressels Film „Hilbig. Eine Erinnerung“ erinnern sich Freunde und Kollegen an den Dichter. Am 26.1. wird er im Literaturforum im Brecht-Haus gezeigt (20 Uhr, Chausseestraße 125).

Dieses Frühjahr erscheint eine neue Ausgabe des Kurzgeschichtenklassikers „Wovon wir reden, wenn wir von Liebe reden“ von Raymond Carver, der man mit Freude und leichtem Bangen entgegensieht. Denn Carvers Lakonie, seine Kunst der Aussparung, hat, wie man weiß, viel mit den radikalen Kürzungen seines Lektors Gordon Lish zu tun, die Carver, je berühmter er wurde, desto mehr als störende Eingriffe in seinen Stil empfand. Unter dem Titel „Beginners“ kommt nun die Originalversion, der unlektorierte reine Carver heraus. Aber ist Carver ohne Lish noch das, was mir meinen, wenn wir von Carver reden?

Über die manchmal schwierige, aber zumeist befruchtende Beziehung zwischen Autor und Lektor sprechen vorab Terézia Mora und Sibylle Lewitscharoff mit ihren Lektoren Klaus Siblewski und Julia Ketterer in der Literaturwerkstatt (Do, 26.1., 20 Uhr, Knaackstraße 97).

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