zum Hauptinhalt

Kultur: Schriftkunst: Ein Mann, ein Wort - Lawrence Weiners in der Deutschen Guggenheim Berlin

Lawrence Weiner legt in seiner ersten großen Berliner Schau Wert darauf, verstanden zu werden. Man muss nur eine kleine Hürde überspringen, schon ist man in einer Welt, in der es weder gebeugte Verben noch die Grenzen von Gegenständen gibt, sondern nur Verlaufsformen von Fantasie und Vorstellung.

Lawrence Weiner legt in seiner ersten großen Berliner Schau Wert darauf, verstanden zu werden. Man muss nur eine kleine Hürde überspringen, schon ist man in einer Welt, in der es weder gebeugte Verben noch die Grenzen von Gegenständen gibt, sondern nur Verlaufsformen von Fantasie und Vorstellung. Der Titel "NACH ALLES / AFTER ALL" ist keine konventionelle Übersetzung. Der New Yorker Künstler nimmt die Wörter wörtlich und jedes für sich. Er bewahrt jedem Wort, auch wenn es Verbindungen eingeht, seine eigene Bedeutung. Idiomatische Wendungen übergeht er.

Letztlich, so will es der Künstler, behalten Wörter Eigenwert. "AFTER" heißt "NACH" und "ALLES" heißt "ALL". Auch der wörtlichen Übersetzung haftet Willkürliches an. Doch die Willkür hat unwillkürliche Wirkungen; sie ist in jeder Sprache anders. Dies bestätigt Weiner mit seinem von Mallarmé übernommenen Verfahren, die Wörter aus den Konventionen zu entbinden und ihnen ihre Sprunghaftigkeit wieder zu geben. Plötzlich fallen sie in die Gedanken ein und lösen Assoziationen aus.

Weiner traut der Macht der Sprache; seit 1965 hat er sie zu seiner Sache gemacht. Dabei wurde er länger als andere Konzeptkünstler - Barry, LeWitt, Kosuth, Huebler, Buren, Broodhaers - auf Distanz gehalten. Durch ihn begann die institutionelle Kritik in der Kunst und das Offenlegen von Produktionsbedingungen des Betriebs. Das ist in prominenten Häusern nicht gern gesehen. Zuerst bohrte er noch Löcher, legte Dynamit und sprengte den Boden. Dann verweigerte er sich der materiellen Umsetzung von Werken und schrieb nurmehr Absichtserklärungen. So hielt er das Mögliche im Zustand des Möglichen. Angesichts der Farb- und Materialschlachten der Pop-Künstler in den Sechzigern befand sich der nicht einmal 30-Jährige in einer prekären Lage. Wie aus Verweigerung Funken und Kapital schlagen? Indem er die Schrift inszenierte und als Inszenierung wie Werbebotschaften für ein imaginäres Museum verbreitete.

Damit hatte Weiner sein Feld gefunden. Er wurde der Dichter der Schrift an der Wand, der in jungen Jahren die große Revolution predigte und heute als leicht gebeugter Mann die ungebeugten Verben auf die Wand der Deutschen Bank schreibt. Seine Wörter sind rebellisch geblieben und haben Scharen von Berlinern bei Telefonanrufen in der Deutschen Guggenheim zur Weißglut getrieben: Aber "AFTER ALL" heißt doch "LETZLICH, SCHLIEßLICH UND ENDLICH, WENN ALLES GESAGT UND GETAN IST!" Ja, sagten die Damen und Herren am Telefon, Sie haben vollkommen recht, aber Lawrence Weiner nimmt sich die Freiheit, "ALLES" zu betonen. Meinte nicht Nietzsche, solange noch an die Grammatik geglaubt werde, sei Gott nicht tot? Wenn das stimmt, dann ist Berlin gottbesessen oder einfach nur pedantisch.

Nach den Werkaufträgen der Deutschen Guggenheim an James Rosenquist, Andreas Slominski, Hiroshi Sugimoto bestreitet nun Lawrence Weiner die vierte Werkpremiere. Rachel Whiteread wird folgen. Die Künstler bekommen carte blanche. Weiner entschied sich für eine Referenz an den Naturforscher Alexander von Humboldt (1769-1859) und setzte dafür eine einfache Analogie, gleichsam das Minimum an Erkennbarkeit, zu dessen Klassifikationsystem ins Werk. Auf der ersten Südamerikareise hatte Humboldt 12 000 Pflanzen identifiziert und klassifiziert. Dem folgt Weiner nicht. Jede Möglichkeit einer Bedeutung möge gleichwertig allen anderen sein, schreibt er. Daran wäre Humboldt verzweifelt. Weiner zählt 1+1+1 ... und verzichtet auf die Summe. Humboldt teilt ein, kombiniert. Er beharrt auf dem Einzelnen: keine Hierarchie, sondern gleichwertige Singularitäten.

Weiners Betonung auf das spezifisch Ungefähre verankert er im Dialog mit Humboldt bis in die Grammatik hinein. So schreibt er fast nur Partizipialkonstruktionen, verzichtet auf zeitliche und modale Zuschreibungen und bürdet dem Übersetzer ins Deutsche kaum zu bewältigende Schwierigkeiten auf. Der behilft sich mit dem Infinitiv: zeitlos, geschlechtslos, ungebeugt, neutral. "ETWAS VON GEWICHT / ETWAS VON WENIGER GEWICHT / ETWAS ANDERES / ETWAS / STEHEN AM SELBEN ORT" ist an die Wand geschrieben. "ETWAS GROSSES / ETWAS KLEINES / ETWAS ANDERES / ETWAS / VOR EINEM PUNKT IN DER ZEIT". Lesend steht man vor den Zeilen und mag sich Humboldts Blick vorstellen, wie er vor einer Pflanze steht und sie zuordnen will. "ETWAS KLARES / ETWAS DICHTES / ETWAS ANDERES / ETWAS / REFLEKTIEREN DASSELBE LICHT".

Der New Yorker Künstler hat alle Wände genutzt. Der Besucher betritt ein aufgeschlagenes Buch mit zehn Seiten. Für den Museumsshop entwarf der Künstler ein Etui mit Lupe und Fernrohr, so dass die Notate an der Wand auch als Anweisungen zu lesen sind, um genau hinzuschauen, worauf man sieht. Doch ein solches Multiple entspricht fast nicht mehr dem echten Weiner. Viel besser passt die große Werbekampagne zu seinen Absichten, denn von Anfang an hatte er sich mit der massenmedialen Bedeutung von Plakaten, Karten, Büchern befasst. 1998 ließ er in elf deutschen Städten sein Statement plakatieren: "IN DEN WIND GESCHRIEBEN", was im Englischen schöner "WRITTEN ON THE WIND" hieß. Dazu fügte sich ein Foto, das den Künstler als traurigen Seemann mit hängenden Schultern zeigt.

Peter Herbstreuth

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false