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In den „Stilübungen“ spielt Queneau oft hundert Mal dieselbe Szene in der Metro durch.

© dpa

Schriftsteller Raymond Queneau: Eine Zugfahrt in hundert Zungen

Der Schriftsteller und Surrealist Raymond Queneau ließ in seinen „Stilübungen“ hundert Mal dieselbe Szene in der Metro stattfinden - als Haiku, Ode, Schauerroman. Das Werk ist jetzt neu übersetzt worden.

Es gibt Bücher und Autoren, denen wir auf den ersten Leseblick erliegen. Einer von ihnen ist für mich der französische Schriftsteller Raymond Queneau (1903–1976), der schon fast vergessen schien. Queneau hat eine Reihe von Romanen und Erzählungen geschrieben, auch mehrere Gedicht- und Essaybände veröffentlicht. Von seiner Prosa ist manches verstreut in deutschen Übersetzungen erschienen, aber bekannt, ja eine Weile lang berühmt ist er nur durch zwei Bücher geworden: durch den Roman „Zazie in der Metro“ und seine virtuosen „Stilübungen“.

Das war 1960/61. Damals hatte Eugen Helmlé, der wunderbare Botschafter zwischen dem Französischen und Deutschen – im Jahr 2000 verstorben, ein Übersetzerpreis ist nach ihm benannt – die beiden Bücher kurz hintereinander für den Suhrkamp Verlag übertragen. Und von Louis Malle kam eine Verfilmung der „Zazie“ in die Kinos, mit der jungen Catherine Demongeot als Titelheldin und Philippe Noiret als ihrem Onkel, bei dem die zehnjährige Provinzgöre Zazie in Paris von der Mutter abgegeben wird, weil Mama sich beim Ausflug in die Hauptstadt mit ihrem Liebhaber treffen will.

Eine ambitionierte Neuübersetzung

Zazie, ein Mädchen mit dem Humor, Mut und Eigensinn von Pippi Langstrumpf und Huckleberry Finn hoch zwei, entdeckt Paris in zwei wilden, witzigen Tagen auf eigene Kinderfaust, klaut Jeans, steckt voller Streiche, gerät in Polizeiverfolgungsjagden, Kneipenschlägereien und in ein Cabaret, in dem ihr Onkel als Transvestit auftritt, nur die ersehnte Metro wird gerade bestreikt. Das zauberhafte Buch macht keinen Unterschied zwischen K- und E-Literatur (Kinder/Erwachsene), und Louis Malles kongeniale Verfilmung wurde zum veritablen Skandal, weil die FSK der späten Adenauerzeit Zazies frechen Jargon mitsamt allen erotischen Anspielungen aus der deutschen Fassung strich.

Und jetzt? Queneau, der späte Surrealist und erklärte „Pataphysiker“ (im Geist des Frühabsurden Alfred Jarry), der hauptberuflich im Pariser Gallimard Verlag für die große lexikalische Encyclopédie de la Pléiade die Bände zur Weltgeschichte der Literatur verantwortet hat, er ist nun durch eine ambitionierte Neuübersetzung wiederzuentdecken. Was in Helmlés erster Version der „Stilübungen“ mit dem Titelzusatz „Autobus S“ im Jahr 1961 noch eine gerade 165-seitige Broschur im Taschenbuchformat war, ist nun zu einem schmalen, doch ausgewachsenen Hardcover-Bändchen geworden: Raymond Queneau „Stilübungen“. (Erweitert und neu übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, Suhrkamp Verlag, Berlin, 215 Seiten, 22 €).

Zum Lachen, Achselzucken, Kopfschütteln

Wie die zwölf Jahre später verfasste „Zazie“, die mit dem Ausruf „Fonwo- stinktsnso“ beginnt, ist auch Queneaus 1947 erstmals erschienene Sammlung der gut 100 kurzen „Stilübungen“ eine famose Sprachspielerei. In einem Bus der Linie S beschimpft ein junger Mann einen älteren Herrn, drängt sich auf einen freien Sitz und taucht zwei Stunden später an der Gare Saint-Lazare wieder auf, wo ihm jemand sagt, er solle sich oben an seinen Mantel noch einen Knopf nähen lassen.

Diese immerselbe banale Szene wird nun stilistisch bis ins Lautmalerische variiert: als Komödie, Ode, Schauerroman, Haiku, auf Javanisch, Botanisch, Makkaronisch, Mathematisch oder Homophonisch. Zum Lachen, Achselzucken, Kopfschütteln. Und allemal zum Staunen über die Sprachkunstlust der beiden preisgekrönten Berliner Übersetzer Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, die, statt sich getrennt über Diderot, Don DeLillo oder Houellebecq zu beugen, hier zusammen auf dem sprühenden Queneau-Vulkan tanzen und selber ein Wortfeuerwerk abbrennen.

Eugen Helmlé, unterstützt vom Autor Ludwig Harig, begann den Ausgangstext so: „Im Autobus der Linie S, zur Hauptverkehrszeit. Ein Kerl von etwa sechsundzwanzig Jahren ...“ Nun Heibert/Schmidt-Henkel: „Im S, zur Stoßzeit. Ein Typ, ungefähr sechsundzwanzig ...“ Man sieht sofort, das klingt eine Spur direkter, härter, doppelsinniger. Also warten wir jetzt noch: auf eine ähnlich neue, alte, junge „Zazie in der Metro“.

Raymond Queneau: Stilübungen. Erweitert und neu übersetzt von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, Suhrkamp Verlag, Berlin, 215 Seiten, 22 €.

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