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Kultur: Schuld und Schande

Die Leichen leben: Barrie Kosky inszeniert Janaceks "Aus einem Totenhaus" an der Staatsoper Hannover. Die Produktion ist von Ausnahmerang.

Man greift nicht zu hoch, wenn man in der letzten Oper Leos Janaceks eines der essenziellen Stücke für das 21. Jahrhundert sieht: So wie letztlich alle großen Kunstwerke ihrer Zeit mindestens zwei Generationen voraus sind, nimmt auch das nach Dostojewskis Straflager-Aufzeichnungen entstandene „Totenhaus“ Dinge vorweg, die uns heute mehr beschäftigen als die Zeitgenossen der posthumen Uraufführung 1930. Denn in den letzten 20 Jahren hat die Idee, Menschen in einem abgeschlossenen Raum miteinander reagieren zu lassen wie chemische Substanzen, eine unheimliche Massenfaszination gewonnen. Als ob sich in Containershows, aber auch in dem Symbolwert, den Kunst und Medien dem Wort Guantanamo verliehen haben, die Neugier einer regellosen Gesellschaft aufs Leben spiegeln würde, das ausschließlich unter psychischen und physischen Zwängen stattfindet.

Fragen, auf die Janaceks „Totenhaus“ nachhaltigere Antworten zu geben vermag als die Zufallsinformationen der alltäglichen Nachrichtenflut. Nicht allein, weil Janacek all die Verhaltensweisen des Häftlingsalltags von Aggression bis zu Zuneigung quasi unterm Brennglas vorführt, sondern weil er jeden dieser Sträflinge eben auch als Menschen zeigt und seine Taten emotional nachvollziehbar macht: So wie jeder Mensch ein Verbrechen begehen kann, so hat eben jeder Mensch auch jene Unschuld in sich, auf der allein man die Hoffnung für eine bessere Zukunft aufbauen könnte. „In jeder Kreatur ein Funken Hoffnung“ schrieb der Komponist unter den Titel des Stücks.

An Hannovers Opernhaus, das sich unter seinem Intendanten Michael Klügl als Leuchtturm der deutschen Opernlandschaft etabliert hat, ist der Blick auf das Elend der menschlichen Existenzen von einer Schärfe und Klarheit, die das Mitleid erst möglich macht. Anders als Volker Schlöndorff, der vor einigen Jahren an der Deutschen Oper Janaceks Wahrheiten in Dekor und Pathos erstickte, verzichten Barrie Kosky und seine Ausstatterin Katrin Lea Tag auf allen malerischen Gulag- Zinnober: Die Ketten rasseln nur im Orchestergraben, weder Zaun noch Mauer begrenzen die nackte Spielfläche, auf der die Häftlinge in Jeans und grauen Sweatshirts hocken. Nicht einmal Wärter hat dieses Lager: Eine Sonnenbrille und ein paar Handschuhe reichen Kosky, um aus einem Opfer einen Täter zu machen, der den Neuankömmling prügelt und erniedrigt. Homo homini lupus, der Mensch ist hier des Menschen Wolf.

Der Australier Kosky, der als designierter Intendant der Komischen Oper ab 2012 in Berlin amtieren wird, ist ein Mann der einfachen Bilder, die in diesem Fall genau ins Schwarze treffen: Zu Beginn und am Ende der Oper haben sich die Häftlinge ihre Sweatshirts fast über den Kopf gezogen. Was bräuchte es mehr, um zu verdeutlichen, dass sie alle quasi lebendig Begrabene sind, dass sie am Leben nur in der rückwartsgewandten Form der monologischen Schicksalsberichte teilhaben, mit denen Janacek die drei Akte des Stücks durchsetzt? Und was wäre besser geeignet, um die monoton verrinnende Zeit des Lagerlebens spürbar zu machen, als die stupiden Exerzierrituale in der kurzen Pause zwischen erstem und zweitem Akt?

Wie auf einem Seziertisch werden die Mechanismen offenbar, mit denen die Männer auf ihre ausweglose Lage reagieren: die rohe Gewalt, mit der die Stärksten eine Hackordnung etablieren, die spastischen Verklemmungen, mit denen die Körper der Schwächeren zu rebellieren scheinen, aber auch die Zärtlichkeiten, die sich anbahnen. In ihrer Klarsichtigkeit verweist die Szene freilich nur darauf, dass all diese Verhaltensweisen auch ganz offen zutage liegen. Die Musik selbst scheint oft wie aus scharfkantigen Splittern und grellen, verschossenen Flicken zusammengesetzt – auch wenn Wolfgang Bozic und sein Hannoveraner Orchester den auch spieltechnisch extremen Anforderungen Janaceks bisweilen nur approximativ gerecht werden können.

Dass jene andere Ebene des „Totenhauses“, auf der das Lager als Gleichnis für die schuldverhaftete Menschheit steht, darüber etwas ins Hintertreffen gerät, ist wohl der Preis, den man für die extreme Nahsicht auf die Figuren in Kauf nehmen muss. Die „Don Giovanni“-Theateraufführung etwa, die die Häftlinge im zweiten Akt des Stücks veranstalten, bleibt eine pralle, derbe Farce. Zu zeigen, was die Kunst für unser Leben bedeuten kann, bleibt Inszenierungen vorbehalten, die das Stück aus größerem Abstand heraus erzählen.

In der Dringlichkeit des Spiels, der unmittelbaren Glaubwürdigkeit, die Kosky jedem einzelnen Darsteller abgewinnt, besitzt die Produktion jedoch allemal Ausnahmerang, zumal Kosky bei aller Brutalität nie ins Plakative abgleitet, sondern eben jenes unmittelbare Nebeneinander von Gut und Böse in jeder Figur genau abbildet. Und das sind eigentlich genau die Qualitäten, auf die man auch an der Komischen Oper stolz ist.

Wieder am 26., 29. März sowie 4. April.

Jörg Königsdorf

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