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Sympathische Radikalität. Precht will unter anderem Noten abschaffen.

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Schulpolitik in Deutschland: Precht fordert Revolution des Bildungssystems

Kinder brauchen Bildung, keine Ausbildung: Richard David Precht fordert in seinem neuen Buch "Anna, die Schule und der liebe Gott" eine Revolution unseres Bildungssystems.

Als ultimativer Bestsellerautor muss sich Richard David Precht keine Gedanken mehr darüber machen, ob er für ein neues Buch auch den richtigen, markttauglichen Stoff wählt. Der Name Precht allein genügt schon. Der 1964 in Solingen geborene Philosoph und Publizist ist seit einigen Jahren Deutschlands oberster populärwissenschaftlicher Welterklärer, schlau und immer mit dem richtigen Sensorium ausgestattet für die Interessen und Nöte der Gesellschaft.

Insofern darf man ihm unterstellen, dass sein dieser Tage erscheinendes Buch über die Schulpolitik in Deutschland, über die „Bildungskatastrophe“ und die Notwendigkeit einer „Bildungsrevolution“ in erster Linie eine Herzensangelegenheit ist – Precht hat einen neunjährigen Sohn – und nicht nur der Versuch, mit der Wahl eines unzweifelhaft brisanten, drängenden Stoffes einfach einen weiteren Bestseller zu landen. Die Umstände der Veröffentlichung von „Anna, die Schule und der liebe Gott“ könnten allerdings auch nicht günstiger sein.

Der „Spiegel“ macht pünktlich zu den Abiturprüfungen und im Hinblick auf das Turboabitur eine Titelgeschichte zur „Generation Stress“ und fragt: „Üben die Lehrer tatsächlich zu großen Leistungsdruck aus?“ In Berlin streiken die angestellten Lehrer für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Geld. Und Precht hat auf den Vorabdruck seiner „zehn Prinzipien“ für eine Bildungsreform vor zwei Wochen in der „Zeit“ im selben Blatt postwendend eine Antwort von Hamburgs Schulsenator Ties Rabe bekommen. Rabe lehnt Prechts Prinzipien in Bausch und Bogen und als an der Realität vorbeigehend ab, prophezeit, sollte es tatsächlich eine „Bildungsrevolution“ geben, „bürgerkriegsähnliche Zustände, Milliardenkosten und Millionen verkorkster Bildungskarrieren“ und bescheinigt Precht, „ein typischer Sofakritiker“ zu sein.

Willkommen im Bildungsstreit, in dem grobe Keile (Rabe) auf durchaus grobe Klötze (Precht) gehören – und in dem Richard David Precht sich nun mit seinem Buch gezielt gleich zwischen mehrere von ihm schnell gefundene Fronten begeben hat. Hier „die Bildungsbürger, die ihre Kinder nicht mit den Kindern der Bildungsfernen auf einem Schulhof sehen möchten“, da schauen sich am besten gleich einmal alle jüngeren Eltern selbst an oder in ihrem Freundeskreis um. Und dort „die veränderungsunwilligen Lehrer und Kultusminister“, die sich jede Einmischung verbitten, siehe Ties Rabe. Und schließlich ist da noch die Front der Kapitalismuskritiker auf der einen Seite und die der „Kapitalismuskonformen“ auf der anderen. Wobei Letztere nicht zuletzt mit der Verkürzung der Gymnasialzeit auf zwölf Jahre „unser Bildungssystem dem Maßstab der ökonomischen Nützlichkeit und Beschleunigung“ ausliefern, wie Richard David Precht meint, um dann richtigerweise die Schlussfolgerung zu ziehen: „Jugendliche, die mit siebzehn Jahren Abitur machen und nach einem Schnelldurchgangsstudium ihren Bachelor-Abschluss mit zwanzig in der Tasche haben, sind für keine einzige Management-Position ernsthaft zu gebrauchen. In ihrem Lebenslauf ist alles weggelassen, was ein Leben erst rund und komplex macht. Die Ausbildung hat die Bildung ersetzt. Zur Persönlichkeit jedoch kann man sich nicht ausbilden, nur bilden.“

Bisherige Verbesserungen sind für Precht nur Anbauten an ein marodes Gebäude

Um Bildung geht es auch Precht zunächst, um Charakter-, Lebens-, vielleicht gar Herzensbildung, um eine Allgemeinbildung, die vor der Fachausbildung kommt, darum, dass junge Menschen nach der Schule in der Lage sind, „sich in der Welt und mit sich selbst zurechtzufinden.“

Deshalb beginnt er sein in zwei große Kapitel unterteiltes Buch („Die Bildungskatastrophe“ und „Die Bildungsrevolution“) auch mit der Vorstellung der Bildungsideale eines Wilhelm von Humboldt, erwähnt dann noch die durchaus erfolgreichen Bildungsreformen der sechziger und siebziger Jahre und was daraus geworden ist (nichts mehr!), um schließlich mit dem gesamten gegenwärtigen System abzurechnen: mit dem dreigliedrigen Schulsystem, den überflüssigen Stoffmengen, der „Bulimie-Lernerei“ der Schüler (schnell Wissen anfuttern, es ausspeien und danach sofort vergessen), den fehlenden Vermittlungsfähigkeiten der Lehrer, dem Noten-Bewertungssystem, der 45-Minuten-Schulstundentaktung, den kasernenartigen Schulgebäuden (deren Baufälligkeit und Heruntergekommenheit vielerorts er gnädig ignoriert), der Lehrerausbildung, der zunehmenden Anzahl von Privatschulen, Pisa, G 8 etc.

Ja, dieses Buch ist in seinem ersten Teil eine Art Untergangsszenario – und Precht ist ein gewiefter Sachbuchautor, der zuspitzt, der polemisiert, der sich genau die Zahlen und die Reformpädagogen und Schul- und Bildungskritiker sucht und findet, die er für seine Katastrophenbeschreibung braucht. Die Verbesserungen, die es hie und da gegeben hat, von Angeboten wie „Lernen lernen“, Kreativ-AGs oder Projekt sind für Precht nur „neue kleine Anbauten an ein marodes Gebäude“, schließlich geht es ihm um ein ganz neues Gebäude, eine Revolution. Er schlägt „Projekte statt Fächer“ vor, die Abschaffung der Noten und des Sitzenbleibens, die Hervorhebung nicht-kognitiver Fähigkeiten wie Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit, Fairness und Teamgeist, die größere Berücksichtigung individueller Fähigkeiten, Ganztagsschulen, Lehrer aus dem Leben, Unterrichten in Lehrerteams und dergleichen mehr.

Richard David Precht
Richard David Precht

© picture alliance / dpa

Viele dieser Vorschläge klingen plausibel, sind schon angedacht und vereinzelt umgesetzt worden. Manches davon ist tatsächlich utopisch bis absurd, wie etwa die Einführung eines 8. Schuljahrs, eines „Abenteuerprojektjahrs“, weil pubertierende Kinder eher weniger schul- und aufnahmefähig sind. Und der Schnellkurs, den Precht im Fach „Biologie des Lernens“ gibt, mutet gleichfalls oberflächlich an: schnell mal Aufbau und Funktion von Nervenzellen erklärt, ein bisschen Dopamin dazu – und fertig sind der „Flow“, „das andauernde lustvolle Bei-sich-selbst-Sein“, und Gemeinplätze wie „Nur durch das Vergessen erhält das Erinnerte seinen Wert.“

Bedenkenswert ist Richard David Prechts Buch dennoch. Auch die von ihm geforderte Radikalität, mit der unser gegenwärtiges Schulsystem umgebaut werden sollte, hat etwas Sympathisches. Von „verheerenden Botschaften“ spricht Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe in seiner Antwort auf Precht übertrieben alarmistisch, von „Heilsversprechen für alle Bildungsprobleme“, die Precht aber gar nicht macht. Es muss nicht immer alles beim alten Schlechten bleiben. Man will die eigenen Kinder wirklich nicht „fit für den Weltmarkt“ machen. Und man will ihnen heutzutage auch nicht weismachen, „durch die Schule irgendwie durchzumüssen“. Bloß weil man selbst mal mehr, mal weniger unbeschadet durchgekommen ist.

Richard David Precht: „Anna, die Schule und der liebe Gott“. Goldmann Verlag, München 2013. 352 Seiten, 19, 99 €.

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