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Kultur: Schweben lernen Jean-Philippe Toussaint beschließt seine Marie-Trilogie

Er war nie bloß Literat für Literaten. Selbst in Jean-Philippe Toussaints erstem, 1985 veröffentlichten, durchgehend artifiziellen Buch „Das Badezimmer“ schwang viel Leichtes, Freches, Freundliches mit, das dieser Geschichte eines jüngeren Mannes, der vor den Anforderungen der Welt dauerhaft in sein Badezimmer emigriert, viele Fans einbrachte.

Er war nie bloß Literat für Literaten. Selbst in Jean-Philippe Toussaints erstem, 1985 veröffentlichten, durchgehend artifiziellen Buch „Das Badezimmer“ schwang viel Leichtes, Freches, Freundliches mit, das dieser Geschichte eines jüngeren Mannes, der vor den Anforderungen der Welt dauerhaft in sein Badezimmer emigriert, viele Fans einbrachte. Manche machten schon in „Monsieur“, dem zweiten schmalen Roman des 1957 in Brüssel geborenen Belgiers, deutlich mehr erzählerischen Mainstream aus, der mit „Der Photoapparat“ schon wieder zu verschwinden schien. Aber mit „Sich lieben“, dem ersten Teil der Marie-Trilogie, setzt er sich dann doch durch. Auch wenn man in jedem Teil der Trilogie, die Toussaint jetzt beschließt, viele Verbeugungen vor dem Boulevard ausmachen kann: Darum geht es dem Autor nicht.

Denn neben süffig-komplexen, erotischschicken Liebesverhältnissen an mehr oder minder exquisiten Orten eines künstlerisch angehauchten Jetsets (Paris, Japan, Elba), gibt es auch in „Die Wahrheit über Marie“ viele Passagen, in denen er so tut, als habe er nicht bemerkt, dass der Nouveau Roman inzwischen zum alten Eisen zählt. Toussaint, der seine ersten Manuskripte an Robbe-Grillet gesandt hatte, versteht es immer noch, seitenlang über einzelne Dinge zu schreiben. Neu ist, dass diese Passagen oft wie Rhythmusbrecher wirken, damit es nicht in Richtung „Cosmopolitan“ abdriftet. Beinahe aus dem Nichts heraus beginnen die Beschreibungen, ob es um das teure Richelieu-Schuhwerk von Maries Liebhaber Jean-Baptiste geht, das in ihrem Schlafzimmer geblieben ist, nachdem Jean-Baptiste gerade als Leiche abtransportiert wurde. Oder um sein Rennpferd, das am Tokioter Flughafen ausreißt. Wobei der Erzähler diesen Jean-Baptiste aus Ignoranz gern JeanChristophe nennt.

Besonders die ersten 60 Seiten sind Toussaint wunderbar gelungen. Von ironisch-leichter, etwas verplauderter Frivolität geht es, mittels einer ironisch-reißerischen Sterbeszene, brüsk über in die erzählerisch an sich überflüssige Feier der Details eines sterbenden Körpers.

Man kann sich die Irritation all jener vorstellen, die Toussaint seit „Faire l’Amour“ für einen Bestsellerautor halten und deshalb kaufen. Insofern sind seine stilistischen Experimente interessanter als die von Autoren, die von vornherein für einen formal abgebrühten, das Unerwartete erwartenden Leserkreis schreiben.

Auch die lässige Extravaganz von Marie, die sich mit Toussaints eigener gut verträgt, überzeugt bei der Lektüre. Wenn Toussaint eine Liebesszene skizziert, dann geht es nicht darum, wer mit wem was gemacht hat. Die Liebe des Erzählers zu Marie ist ohnehin eine der verpassten Trennungen. In einer der erotischsten Szenen des Buchs wartet Marie auf Jean-Baptiste und begeistert sich daran, dass draußen ein Gewitter niedergeht, während sie im warmen Bett liegt. Auch zwischen dem zu Hilfe gerufenen Ich-Erzähler und Marie kommt es nach dem Tod von Jean-Baptiste nur zu einer leidenschaftlichen Umarmung, die detailliert geschildert wird und mit einem saftigen Scherz endet – jenem dekorativen Finger in Maries Geschlecht, der eben noch im Geschlecht der anderen Marie lag, der neuen Freundin, bei der Maries entsetzter Telefonanruf den Erzähler gerade erreicht hat. Marie II hat ihre Blutungen. Ein Tropfen davon ist am Finger des Erzählers haften geblieben.

Seit seinen Anfängen sind Toussaints Bücher ein Ineinander von Reflexion und Erzählfluss. Vielleicht gerät ihm das etwas zu technizistisch, aber spannend ist der stets neue Wechsel der Perspektive diesmal schon. Toussaints auktorialer Erzähler schlüpft nacheinander in jede Figur, die ihn interessiert. Ein riskantes Spiel ist das Eintauchen in die Pferdeseele von Zahir, Jean-Baptistes Hengst. Doch selbst hier nimmt Toussaint den Leser nach ein paar Sätzen mit und lässt das Experiment sinnvoll erscheinen. Natürlich bleibt der Schriftsteller an die menschlichen Vorstellungen über die Welt der Tiere gebunden, und die Passage über die Verdauung des Pferdes aus der Pferde-Perspektive erscheint wohl nur deshalb so gekonnt, weil sie das Tier vermenschlicht. Aber was wäre anderes zu erwarten?

Joachim Unselds Übersetzung gelingt es, die schwierigen, oft abrupten Tempowechsel nachzuvollziehen; actionhafte Beschleunigungen um Zahir herum werden von einem seitenlangen In-derSchwebe-Halten bei den erotischen Stellen abgelöst. Toussaint selbst hält diese Schwebeposition übrigens bis über den Abschluss der Trilogie hinaus. Ja, es gibt ein Happy End, aber es lässt sich auch als neuer Anfang interpretieren.

Jean-Philippe

Toussaint
:

Die Wahrheit über

Marie. Roman. Aus dem Französischen von Joachim Unseld. FVA, Frankfurt am Main, 2010.

190 Seiten, 17, 90 €.

Hans-Peter Kunisch

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