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Kultur: Schwester Courage

Die letzte Heldin des HipHop: Missy Elliotts sechstes Album

Wo sind sie bloß geblieben, all die Lil’ Kims, Foxy Browns, MC Lytes, Da Brats oder Queen Latifahs? Während der Neunzigerjahre schien es so, als könnte sich in der Männerdomäne HipHop durchaus eine Riege selbstbewusster Rapperinnen dauerhaft festsetzen. Im neuen Millenium ist davon wenig übrig geblieben. Das große Geld wird mit muskelstrotzenden Macho-Rappern verdient, deren Texte und Videos neue Gipfel des Sexismus und des schlechten Geschmacks erklimmen. Nur eine hält sich trotz allem seit über zehn Jahren im Geschäft: Missy Elliott bringt mit „The Cookbook“ gerade ihr sechstes Album heraus – was vor ihr lediglich MC Lyte geschafft hat.

Anfang der Neunziger lernte Melissa Elliott, 1971 in Portsmouth, Virginia, geboren, den gleichaltrigen Tim Mosley alias Timbaland kennen. Gemeinsam schrieben und produzierten beide 1996 die CD „One in a Million“ für die später tragisch verunglückte R&B-Sängerin Aaliyah. Der weltweite Erfolg dieses Albums ebnete den Weg für die Solokarriere von Missy Elliott. Ihr eigenes Debüt „Supa Dupa Fly“, ebenfalls eine Timbaland-Produktion, wurde ein Jahr später zum Meilenstein, dessen Einfluss weit über HipHop hinausreichte.

Die komplexen Cyber-Beats und Sampling-Architekturen prägten den urbanen Radiosound nachhaltig und sind seitdem in allen wichtigen R&B-Produktionen von Kelis bis Janet Jackson zu hören. Mit jeder Platte eroberte Missy Elliott stilistisches Neuland, eine Risikobereitschaft, die sich in avantgardistischen Hits wie „Get ur Freak on“ oder „Work it“, Platin-Verkäufen und zahlreichen Grammy-Awards auszahlte.

Als erfolgreichster weiblicher HipHop-Act hat Missy Elliott die bestehenden Rollenmodelle kräftig durcheinander gewirbelt. Ob sie sich als toughe Geschäftsfrau, Science-Fiction-Amazone oder Lederdomina in Kampfhundbegleitung in Szene setzt: Sie hält dem branchenüblichen Machismo einen Spiegel vor und verwandelt das passive HipHop-Sexobjekt „Bitch“ in ein Subjekt, das die harten Jungs zur Befriedigung seiner eigenen erotischen Begierden rannimmt. Und wer’s da nicht bringt, kann sich zum Teufel scheren: „I got a bag full of toyz and I don’t need none of your boys“ („Toyz“ auf „This is not a Test“). Die Männerwelt reagierte beeindruckt, zumal Missy Elliott dem HipHop-Lifestyle mit vier Häusern, Hummer-Geländewagen, eigenem Modelabel und MTV- Homestory nicht abgeneigt war. Ihre Gästelisten waren von Jay-Z bis Eminem stets erlesen, und selbst notorische Wadenbeißer wie 50 Cent hielten sich mit Schmähreimen zurück.

„The Cookbook“ ist im Vergleich zu allen bisherigen Platten ein abenteuerlich zerrissenes Werk. Erstmals hat Timbaland nicht die Mehrzahl der Stücke produziert, nur zwei Titel tragen seine Handschrift: „Joy“, ein subtiler, unwiderstehlicher Schleicher, dessen subsonischen Beat ein technoider Synthieschub beschleunigt, und „Partytime“, das eine schnarrende Bassdrum unter Missy Elliotts coole Raps wuchtet. Für „Irresistible Delicious“ wurde die Old-School-Legende Slick Rick eingeladen. Der nasale Singsang des wohl besten Geschichtenerzählers im HipHop bildet einen reizvollen Kontrast zu harschen Scratches und ätherischem Harfengezupfe. Missy Elliott überrascht nicht nur hier als geschmeidige Sängerin und verwischt die Grenzen zwischen HipHop und R&B.

Die Single „Lose Control“ ist der designierte Hit der Platte und wurde von der Chefköchin selbst produziert. Das schroffe, futuristische Klangbild wurde über das Spielkonsolen-Geplucker des mehr als 20 Jahre alten Proto-Techno- Tracks „Clear“ von Cybotron gesamplet. Die lasziv federnde R&B-Ballade „Meltdown“ rechtfertigt mit ihrem monothematisch um den „Magic Stick“ von „Mr. Right“ kreisenden Text allemal den „Parental Advisory“-Sticker auf dem Cover, der vor jugendgefährdenen Inhalten warnt. The Neptunes, neben Timbaland einflussreichste HipHop- und R&B-Produzenten der letzten Jahre, liefern mit „On & On“ einen radikal futuristischen Track, dessen abstraktes Geräuschszenario an eine elektronische Tropfsteinhöhle erinnert.

Der Rest der Platte bietet zwar noch einige gelungene Songs und viel Schönheit im Detail, insgesamt hinterlässt sie aber einen zwiespältigen Eindruck. Zudem offenbart sich auch hier ein Dilemma vieler HipHop-CDs: Bei 16 Tracks und einer Laufzeit von über einer Stunde schleichen sich fast zwangsläufig schwächere Stücke ein. Vielleicht hätte sich Missy Elliott ein Beispiel an der britischen Newcomerin M.I.A. nehmen sollen, deren Debütalbum eine auf zwölf Titel und 40 Minuten konzentrierte Dancefloor-Sensation ist. Immerhin beweist die amtierende Inhaberin der HipHop-Weltherrschaft ein gutes Gespür: Auf dem letzten und besten Titel „Bad Man“ liefert sie sich zu schroffen Synthieriffs und massiv groovenden Jungle-Drums ein funkensprühendes Rapduell mit der jungen Herausfordererin.

Missy Elliot: The Cookbook (Atlantic/Warner)

Jörg W, er

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