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Gemeinschaftsküche. Bei „Sami’s Mother“ (am Tisch hinten rechts) werden lokale Köstlichkeiten zubereitet und Geschichten aus Völkern und Religionen erzählt.

©  Kfir Bolotin

"Season of Culture"-Festival in Jerusalem: Zwischen allen Stühlen

Jerusalem ist eine als Stadt der Widersprüche, der Konflikte – und der Hoffnung. Das Festival "Season of Culture" will einen gemeinsamen Raum zum Leben schaffen.

Israel kommt nicht zur Ruhe. Erst der tödliche Anschlag auf eine Palästinenserfamilie, dann die Messerattacke eines ultraorthodoxen Fanatikers auf sechs Teilnehmer der Gay Parade, eine junge Frau ist ihren Verletzungen erlegen. Die Parade am vergangenen Donnerstag hatte friedlich begonnen, ihr Weg führte durch West-Jerusalem weitab von den Hochburgen der Rechtgläubigkeit. Trotz massiver Polizeipräsenz gelang der Anschlag.

Alle Konflikte verdichten sich in Jerusalem, der Stadt, die gleich drei Religionen als heilig gilt. Wiederholt gibt es Reibereien und Provokationen auf dem Tempelberg, der von Juden und Moslems gleichermaßen beansprucht wird. Unlängst verschanzten sich radikale Moslems mit Molotow-Cocktails in der El-Aksa-Moschee. Dagegen ging die ansonsten auf dem Tempelberg zurückhaltende israelische Polizei entschieden vor, wohl wissend, dass Auseinandersetzungen um die Heiligtümer leicht zu Militärgewalt an den Grenzen Israels führen können.

In der Heiligen Stadt spitzen sich Konflikte unvermeidlich zu, seien sie politischer, religiöser oder ökonomischer Natur. So hat in Jerusalem die landesweite Protestwelle gegen unaufhörlich steigende Preise ihren Ausgang genommen. Zudem beklagt jeder Jerusalemer, den man darauf anspricht, die rasante Gentrifizierung der Stadt, der die Grundstücke für den Wohnungsbau ausgehen und die mittlerweile Hochhäuser zulässt, wo bislang niedrige Bebauung Vorschrift war.

Konflikte fließen in das Festival ein

In einer solchen Stadt der leicht erregbaren Nerven ein mehrwöchiges Kulturfestival unter dem Namen Jerusalem Season of Culture zu veranstalten, heißt, diese Konflikte einzubeziehen und zur Sprache zu bringen. So geht ein Teilprogramm mit dem Titel „Unter dem Berg“ genau diese empfindliche Stelle an. Die Geschichten des Tempelbergs als Ort nicht nur dreier Religionen, sondern auch als Ort von Gewalt, Überwachung und Wirtschaftsinteressen wird im öffentlichen Raum diskutiert – sogar, wenn es denn überhaupt möglich sein wird, auf dem Plateau des Tempelberges selbst.

Aber auch Aktionen wie eine „Mauer aus Eisblöcken“ rücken etwa die Empfindlichkeiten, die sich mit der Klagemauer verbinden, in ein neues Licht. „Es gibt immer ein Risiko“, räumt Programmchef Omer Krieger ein: „Wir wissen nie, wohin das alles führen kann.“ Und er nennt als seine und des ganzen Festivals „Vision“ die des „gemeinsamen Raumes“, eines „Ortes, an dem wir alle leben können“. Die politische Linke, fügt Krieger schelmisch hinzu, als wir unter den schattigen Bäumen auf der Terrasse des Lutherischen Hospizes sitzen, kritisiere ihn für die Wahl des Tempelbergs, „weil er okkupiertes Territorium“ sei, und die religiöse Rechte, weil er an einem weiteren Abend auf die archäologischen Spuren „vor der Zeit des Tempels“ zeige. Sich zwischen alle Stühle zu setzen, ist geradezu ein Markenzeichen der erst vor fünf Jahren gegründeten Kultursaison.

Das Programm „In-House Festival“ machte zum Auftakt unbekannte, private Örtlichkeiten für Musik und Partys zugänglich. Oder auch das verlassene oder besser „entwohnte“ Dorf Lifta in Nachbarschaft zur Kommune Jerusalem. Früher eine wohlhabende arabische Siedlung mit 3000 Einwohnern, liegt es mittlerweile brach. Es ist das Objekt der Begierde der in Netanjahus Israel sehr einflussreichen Baulöwen, die hier Apartmenttürme plus Shopping-Mall hochziehen wollen. Eine „Wanderung“ mit Audio-App lässt die Geschichte des Ortes lebendig werden, in dem heute nur mehr eine im Tal unterhalb der Ruinen entspringende Quelle von orthodoxen Juden als reinigendes Bad genutzt wird.

Leichtere Kost boten zu Beginn des Festivals „Events“ auf den Terrassen von Privathäusern – Swing-Musik mit den wunderbaren Hazelnut Sisters, eine satirische „Radio-Show“ oder ein israelisch-palästinensisches Gemeinschaftsessen im Saal der „Shrafat Women’s Society“ in einem arabischen Vorort. Israel, beklagen alle Festival-Macher, operiere politisch mit Unterdrückung, die Palästinenser oder offiziell „arabischen Israelis“ reagieren mit Totalboykott.

Die Überwindung der sichtbaren, vor allem aber in den Köpfen verankerten Trennlinie zwischen „Israel“ und „Arabien“ – was nicht nur Palästina meint, sondern ebenso das bis 1967 die Altstadt von Jerusalem umfassende Jordanien – ist ein durchgehendes Motiv der Kultursaison. Aber auch die Diskussionsveranstaltungen im Haus der Filmemacherin und Kritikerin Marlyn Venig dürfte Denkbarrieren niederreißen: Sie lebt mit neunköpfiger Familie nach der strengen Auslegung der Gesetze ihrer Religion. In der Nähe, inmitten eines ausgedehnten ultra-orthodoxen Viertels, hat eine Galerie in einem früheren Luftschutzkeller eröffnet. Film und Kunst unter Strenggläubigen? Ja, es gibt sogar eine Tanzgruppe junger orthodoxer Frauen, die das Festival zu Performances inmitten einer großen Stadtbibliothek geladen hat.

Orthodoxe Frauen treten in Dialog mit nicht-religiöser Welt

Die orthodoxen Gemeinden, darauf hatte Marlyn Venig hingewiesen, sind im Wandel begriffen, und zwar „ausgelöst von ihren Frauen. Sie sind diejenigen, die in Kontakt mit der nicht-religiösen Welt treten.“ Es gibt mittlerweile orthodoxe Filme, Kinos und Künstler aller Sparten.

Zwar ist die bildende Kunst beim Festival nicht vertreten, aber zumindest eine „verrückte Nacht“ im Israel Museum steht bevor. Das Haus feiert gerade sein 50-jähriges Bestehen. Eine Ausstellung ist zeitgenössischen Künstlern des Landes gewidmet. Roi Kuper beschäftigt sich mit dem Gaza-Streifen, einmal nicht als Synonym für Leid und Gewalt, sondern als biblisches Land der Schöpfung.

Wenn die Kultursaison Anfang September im wahrsten Sinne des Wortes ausklingt, steht das „Festival heiliger Musik“ auf dem Programm. Wiederum werden Erwartungen und Begriffe umgedeutet. Denn „sacred“ soll alles heißen, was die Sänger und Musiker auf die Bühnen bringen, die vom Davidsturm inmitten der osmanischen Befestigung der Altstadt bis zum kathedralartigen Riesenkomplex des YMCA in der Neustadt reichen. Und musikalisch von Flamenco bis Reggae, von Saiteninstrumenten aus Rajasthan bis zu Liedern orthodoxer Komponisten.

„In Jerusalem haben wir alle Arten von Geräuschen.“

„In einer Stadt, die von Religion dominiert, aber auch geteilt wird“, erklärt Itay Mautner, der künstlerische Leiter des „Sacred Music Festival“, müsse auch die dargebotene Musik „anders“ sein: „In Jerusalem haben wir alle Arten von Geräuschen.“ Wie zum Beweis dringen das Läuten der Kirchenglocken und die Gebetsrufe der Muezzin in den stillen Innenhof des geschichtsträchtigen „American Colony Hotel“, diese „westliche“ Exklave im ehedem jordanischen Ost-Jerusalem. Das beständige Sirenengeheul von Polizeiautos indessen ruft den profanen Alltag stets wieder ins Bewusstsein zurück.

Jerusalem hat viele Geschichten zu erzählen. Es gibt nicht die eine, einzig wahre Erzählung. Das ist der Grundgedanke des Kultursaison-Programms. Und so sind alle Ereignisse und Zusammenkünfte, die das Festival anbietet, „spezifisch“ für Jerusalem „und nicht international zu erleben wie in London oder Berlin“, betont Naomi Fortis, die Geschäftsführerin des Festivals. Von der Terrasse ihres Hauses blickt man direkt auf den heiligen Berg Zion – ein Hügel der Größe nach, doch ein Gebirge an Bedeutung. Jerusalem besitzt viele Perspektiven und, wie seine Bewohner, „multiple Identitäten“. Die „Season of Culture“ versteht sich Naomi Fortis zufolge als „Laboratorium“ für die „Richtung, in die sich die israelische Gesellschaft bewegt“. Doch die Schatten fortwährender Konflikte und Gewalt hängen auch über einem noch so an- und aufregenden Festival.

Jerusalem, bis 4. September. Infos unter www.jerusalemseason.com

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