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SEHEN: Das Potenzial der Meerjungfrau

Als ich 1994 nach Berlin kam, tauchten in jeder Theaterankündigung genau zwei Vokabeln auf: „Isolation“ und „Vereinzelung“. Alle (Bühnen-)Welt kümmerte sich offenbar um unfreiwilligen Separatismus, wobei der Frührentner genauso betroffen schien wie die Single-Chemiestudentin, der gemobbte Arbeitnehmer und die aus der Work-Life-Balance geratene Führungskraft.

Als ich 1994 nach Berlin kam, tauchten in jeder Theaterankündigung genau zwei Vokabeln auf: „Isolation“ und „Vereinzelung“. Alle (Bühnen-)Welt kümmerte sich offenbar um unfreiwilligen Separatismus, wobei der Frührentner genauso betroffen schien wie die Single-Chemiestudentin, der gemobbte Arbeitnehmer und die aus der Work-Life-Balance geratene Führungskraft.

Als ich letztes Wochenende, also 19 Jahre später, Pressemitteilungen freier Theater studierte, war ich mir plötzlich sicher, in einer Zeitschleife zu hocken: Kein Brief, keine Mail, kein Flyer ohne „Isolation“ und „Vereinzelung“! (Dass das Fremdwörterbuch Zweiteres als deutsches Synonym für Ersteres vorschlägt, tut übrigens nichts zur Sache: Im off-theatralen Pressetext taucht das Phänomen grundsätzlich als Doppelschlag auf.)

Wir konstatieren also: Es gab inzwischen Regierungswechsel, es gab 9/11, Hartz IV, Mietwucher, Anti-Gentrifizierungsdemos; und alle Chemiestudentinnen und Arbeitnehmer, die ich damals kannte, klagen, wenn ich sie heute treffe, über alles Mögliche – außer über „Isolation“ oder „Vereinzelung“. Schön, dass wenigstens das Theater stabil bleibt!

Die wohl lohnendste Veranstaltung der Woche im besagten Segment lautet übrigens Schwawarma, läuft im Ballhaus Ost (15.–28.6., 19 Uhr) und erforscht, „wie nach Dekaden der Vereinzelung und Isolation“ endlich „das Kollektiv wieder Welten bauen kann“. Das Publikum, heißt es weiter, ist dabei „Teilnehmer einer utopischen Spielsituation“ – womit wir bei Platz zwei der theatralen Themencharts wären: Wortgruppen mit „Utopie“! „Der utopische Entwurf“ oder die „Sehnsucht nach einer neuen Utopie“ halten zwar noch nicht ganz so lange die Stellung wie „Isolation“ und „Vereinzelung“, konnten sich aber in den letzten vier Jahren unter den Top drei einpendeln. Soeben untersuchte die Performerin Melanie Schmidli in den Sophiensaelen das „utopische Potenzial“, das in einer „leidenschaftlichen Identifizierung“ mit Disneys „Arielle, der Meerjungfrau“ liegen könnte.

Gelegentlich kommt natürlich auch ein bisschen Bewegung in die Theater-Charts! Der jüngste – aber dafür schon erfreulich omnipräsente – Einsteiger heißt die „Katastrophe“ und wird offenbar idealtypisch erlebbar in der Performance Bumm! Der Ernstfall im Theaterdiscounter (21.–23.6., 20 Uhr), wo das Kollektiv „Hunger&Seide“ die „Katastrophentauglichkeit unserer Gesellschaft“ untersucht und verspricht: „Die Zuschauer nehmen gemeinsam mit den Performern auf Notliegen Platz ... Man hockt aufeinander, ist einander ausgeliefert – derartige Situationen schweißen zusammen.“ Bleibt im Grunde nur eine Frage offen: Will sich der „Vereinzelte“ und „Isolierte“ denn überhaupt „zusammenschweißen“?

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