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SEHEN: Im Parkett lauert der Sexismus

Wenn man rund hundert Mal pro Jahr ins Theater geht, kann einen durchaus der Eindruck beschleichen, die wahren Dramen fänden nicht auf der Bühne, sondern im Parkett statt. Was ist schon der Ehekriegsklassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?

Wenn man rund hundert Mal pro Jahr ins Theater geht, kann einen durchaus der Eindruck beschleichen, die wahren Dramen fänden nicht auf der Bühne, sondern im Parkett statt. Was ist schon der Ehekriegsklassiker „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“ gegen ein streitendes Paar im Pausen-Foyer: „Ich hab’ dir doch gesagt, dass der schlechteste ,Tatort’ tausendmal spannender ist als ,Hamlet’, aber du hörst mir ja nie zu!“ (Auf der Bühne bekommt man solche Sätze schon deshalb selten zu hören, weil jeder Dramatiker, dem sie unterliefen, wegen akuten Klischeeverdachts um seine Lizenz zum Schreiben fürchten müsste.) Noch unterhaltsamer ist es, die Zuschauer nicht bei der Analyse, sondern beim Zuschau-Akt selbst zu beobachten, als Beobachter zweiter Ordnung. Hat man das ein paar Mal getan, kristallisiert sich eine universelle Publikumstypologie heraus, die von Anklam bis Zürich tatsächlich jeder Überprüfung standhält. Ich persönlich habe zwei Kategorien besonders lieb gewonnen.

Die erste ist der dankbar reproduzierende Zuschauertypus, der sich derart mit dem Bühnengeschehen identifiziert, dass er Sequenzen, die ihm besonders gelungen erscheinen, sogleich nachmurmelt, in der Regel leise feixend mit der Kurzeinleitung: „Hähä, der is’ gut!“ Auf dem Spitzenplatz der reproduzierten Wendungen behauptet sich dabei übrigens seit Jahrzehnten der gemeine Herrenwitz – zum Beispiel, um beim „Hamlet“ zu bleiben, die ruhmreiche Generaldiagnose, mit der der Protagonist seine Mutter abkanzelt: „Schwachheit, dein Name ist Weib!“ Ich habe ungelogen noch keine „Hamlet“-Vorstellung erlebt, in der dieser Satz nicht in Hörweite von gleich mehreren Parkettsitzern anerkennend wiederholt wurde. Vielleicht sollten Gesellschaftsanalytiker öfter ins Theater gehen: Die sogenannte Sexismusdebatte, die unlängst über alle Kanäle rauschte, hat ihren revolutionären Ausgang in Wahrheit in den Stadt- und Staatstheatern genommen!

Mein zweiter – leider höchst selten anzutreffender – Lieblingszuschauertypus ist der theatrale Eiferer. Er ist vom Bühnengeschehen per se so begeistert, dass er sich auf Biegen und Brechen in selbiges einbringt – selbst dann, wenn der weltweit gefürchtetste Trend zur Anwendung kommt: das Mitmachtheater. Während sich 99 Prozent der Zuschauerköpfe wie auf Kommando stur nach unten richten, sobald ein Schauspieler ins Parkett ausschwärmt, um einen armen Tropf zu einer (in der Regel undankbaren) Rolle zu verdonnern, reckt der theatrale Eiferer nicht nur das Haupt, sondern auch beide Hände beglückt nach oben wie in der Grundschule. Wage also keiner, dem Schiller-Diktum zu widersprechen, der Mensch sei nur da ganz Mensch, wo er spielt! Es stimmt selbst dort, wo ihm das Spiel aus Sicht des beobachtenden Restes nicht unbedingt zum Vorteil gereicht.

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