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SEHEN: In den Fängen des Callcenters

Jeder, der in die modernen Dienstleistungsmühlen gerät, weil er den Telefonanbieter wechseln will, seine Stromrechnung nicht versteht oder urplötzlich nicht mehr ins Internet kommt, erlebt eine besonders reizvolle Variante des Dokumentartheaters: das vom dialektischen Missverständnis geprägte Rollenspiel mit einem Callcenter-Angestellten, der ihm nach vorgefertigtem Skript lauter Fragen stellt, die er nicht beantworten kann, weil sie nicht das Geringste mit seinem Problem zu tun haben. Die häufigste Frage, die an mich persönlich von Callcenter-Mitarbeitern herangetragen wurde, lautet: „Leuchtet beim intervallartigen Drücken des B-Knopfes die Lampe an Ihrem Splitter gelb oder grün?

Jeder, der in die modernen Dienstleistungsmühlen gerät, weil er den Telefonanbieter wechseln will, seine Stromrechnung nicht versteht oder urplötzlich nicht mehr ins Internet kommt, erlebt eine besonders reizvolle Variante des Dokumentartheaters: das vom dialektischen Missverständnis geprägte Rollenspiel mit einem Callcenter-Angestellten, der ihm nach vorgefertigtem Skript lauter Fragen stellt, die er nicht beantworten kann, weil sie nicht das Geringste mit seinem Problem zu tun haben.

Die häufigste Frage, die an mich persönlich von Callcenter-Mitarbeitern herangetragen wurde, lautet: „Leuchtet beim intervallartigen Drücken des B-Knopfes die Lampe an Ihrem Splitter gelb oder grün?“ – Darauf ich, regelmäßig: „Weder – noch.“ Das Callcenter: „Flackert die Lampe im Sekundentakt?“ Ich: „Da ist gar keine Lampe.“ Rhetorischer Rücklauf des Callcenters: „Haben Sie das Gerät schon mal resettet?“ Mit diesem Standard-Epilog ist mein fernmündliches Dienstleistungsproblemgespräch in der Regel beendet.

So gesehen ist es zwar einerseits tröstlich, dass auch das Theaterkollektiv Interrobang im leidigen Callcenter ein „exemplarisches Gegenwartsphänomen“ erkennt. Andererseits wartet das Trio Till Müller-Klug, Nina Tecklenburg und Lajos Talamonti sogar mit noch düstereren Aussichten auf: Das Callcenter, sind sich die Theatermacher sicher, werden wir nie wieder los! Im Gegenteil: Es wird uns sogar noch existenzieller frustrieren, demütigen, deprimieren und terrorisieren, denn es darf als privilegiertes Kommunikationsmodell der Zukunft immer mehr Lebensbereiche vereinnahmen.

Optimistischer Widerspruch fällt in diesem Fall leider schwer, denn Interrobang sind ausgewiesene Zukunftsforscher. Dem mittlerweile auch theatral in Mode gekommenen Reenactment-Format – also der künstlerischen Wiederaufführung historischer Prozesse – setzen sie kühn das Genre des „Preenactments“ entgegen. Soll heißen: Sie schreiben „exemplarische Gegenwartsphänomene mit Performance- und Theatermitteln in die Zukunft und/oder ins Utopische“ – beziehungsweise eben ins Dystopische – fort. Deshalb laden Interrobang derzeit in den Sophiensälen schon mal zum Training ins „Callcenter übermorgen“ ein (heute und morgen, 21 Uhr). Vorstellen muss man sich selbiges als „Entscheidungscenter für verpasste Lebenschancen und neue Lebensentwürfe“: Die Teilnehmer sitzen in separaten Kabinen, lassen sich durch anonyme Sprachmenüs schleusen und werden bei alledem ständig von der bangen Frage heimgesucht: „Erlebt meine Nachbarin gerade den besseren Trip?“ Wahrscheinlich werde ich nicht die Einzige bleiben, die immer nervöser die „Reset“-Taste drückt.

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