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SEHEN: Mäuse falten, Krönchen basteln

Theatermacher haben sich ja stets einiges einfallen lassen, um das Publikum aus seinem passiv-verträumten Kunstgenuss hochzuschrecken. Besonderen Ruhm erlangte bekanntlich Bertolt Brechts Synapsen stimulierende Grußadresse „Glotzt nicht so romantisch“.

Theatermacher haben sich ja stets einiges einfallen lassen, um das Publikum aus seinem passiv-verträumten Kunstgenuss hochzuschrecken. Besonderen Ruhm erlangte bekanntlich Bertolt Brechts Synapsen stimulierende Grußadresse „Glotzt nicht so romantisch“.

Eine ganz andere Richtung der Zuschaueraktivierung – nämlich eine Art unfreiwilliges Mitmachtheater – hatte kurz zuvor schon der Futurist Filippo Tommaso Marinetti im Sinn gehabt. „Auf ein paar Sessel wird Leim geschmiert, damit die Zuschauer kleben bleiben und so die allgemeine Heiterkeit erregen“, malte er sich 1913 in seinem Manifest „Das Varietétheater“ genüsslich aus. Und weiter: „Ein und derselbe Platz wird an zehn Personen verkauft, was Gedrängel, Gezänk und Streit zur Folge hat. Die Sessel werden mit Juck-, Niespulver usw. bestreut.“

Mit doppelt verkauften Tickets oder Niespulver bin ich persönlich während der Ausübung meines Berufes zwar noch nie beglückt worden. Aber das Mitmachtheater an sich kenne ich besser, als mir lieb ist: In den nuller Jahren verging kaum ein Abend in der freien Theaterszene, ohne dass man mit selbst gebastelten japanischen Faltmäusen oder Pappkrönchen nach Hause kam. Zuvor hatte man sich in fiktiven Arbeitsämtern auf Fahrradergometern ein spärliches Salär erstrampelt, das man dann gegen eine kalte Bulette eintauschen musste, oder in performativen Demokratiekursen betont unterkomplexe Bürgertests ausgefüllt. Und die Truppe Signa, die kürzlich in ihren „Club Inferno“ lud, hatte in Berlin schon 2007 eine theatrale Psychiatrie aufgeschlagen, wo man sich in gruppentherapeutischen Sitzungen mit Holzspielzeug niederschmetternde Diagnosen stellen lassen konnte.

Nach derartigen Aktivitätsstrapazen ist es ausgesprochen angenehm, dass es immer wieder Regisseure gibt, die das Publikum im freigeistigsten Sinn sich selbst überlassen. Bei Nicolas Stemanns Jelinek-Inszenierung „Die Kontrakte des Kaufmanns“, die vor drei Jahren beim Berliner Theatertreffen gastierte, blieben die Saaltüren offen, so dass man nach Belieben pausieren konnte. Noch einen Schritt weiter geht das Trio Vegard Vinge, Ida Müller und Trond Reinholdtsen mit seinem 12-Spartenhaus im Prater. Während der bis zu zwölfstündigen Vorstellung, die jeden Abend völlig anders ist und sich seit der Premiere Anfang Mai stark ausdifferenziert hat, bewegen sich die Zuschauer essend, trinkend, plaudernd und/oder twitternd durchs Prater-Foyer. Hardcore-Vinge-Theater-Junkies bringen sich auch mal Kopfkissen und Schlafsäcke mit, um keine Szene des von Ibsens „Volksfeind“ inspirierten Geschehens zu verpassen. Das findet diesmal – zumindest bis jetzt – in geschlossenen Innenräumen statt und wird per Video übertragen. Furcht vor volksfeindlichen Mitmachzwängen ist also vorerst unbegründet.

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