zum Hauptinhalt
Zwischen Berg und Tal. Blick auf die Tifliser Altstadt mit der Ruine der Nariqala-Festung.

© David Mdzinarishvili/REUTERS

Sehnsuchtsland Georgien: Ode an die kolchische Pimpernuss

Mit Dämonen im Paradies: Impressionen aus Georgien, dem Sehnsuchtsland am südöstlichen Rand Europas.

Von Gregor Dotzauer

Inmitten goldener Kerzenmeere, zwischen Steppen, orthodoxen Klöstern, rissiger Fin-de-siècle-Pracht und sowjetischen Ruinen liegt eine merkwürdige Insel. Kein Nachbar versteht ihre Sprache, und ihr 33 Schriftzeichen umfassendes Alphabet hat sich nirgendwo sonst durchgesetzt. An ihren Gestaden nagen die schleichende Okkupation der Russen, die Missgunst der Armenier, die territorialen Begehrlichkeiten der Aserbaidschaner – und die Türkei, bisher ein verlässlicher Freund, rückt politisch in die Ferne.

Doch für jeden, der sich davonmacht, nähert sich wohlwollend ein anderer. In Richtung Brüssel herrschen Visumfreiheit, eine Freihandelszone und die sogenannte Östliche Partnerschaft. In Richtung Peking führen nach Xi Jinpings „Belt and Road Initiative“ demnächst Transitwege, die das Land in die Neue Seidenstraße einbinden.

Neben den Heerscharen russischer Touristen, die mit guten Absichten einfallen, trifft man seit einer Weile auch Iraner, die Popkonzerte veranstalten, die zu Hause verboten wären, und Teheraner Töchter, die mit Minikleid und Fluppe im Mundwinkel auf der Partymeile der Hauptstadt ihre Freiheit entdecken. Willkommen in Georgien.

Beistand haben die 3,7 Millionen, die dieses Land von der Größe Bayerns bewohnen, dennoch nötig. Wenn die Unfrommeren unter ihnen einmal so ungehemmt losbeten würden, wie es die frommen Fürbittenkaskaden der Popen und die in Dauerschleife antwortenden polyphonen Gesänge der weiblichen Laienchöre vormachen, wäre schnell klar, wie verloren sie in ihrem Glück sind.

Zweifelhafte Hoffnung auf die Nato

Heiliges Georgien, das du die Tritte deiner Bewohner von den sonnenbestrahlten Weinebenen Kachetiens bis in den schroffsten, schneebedeckten Kaukasus lenkst, schaue gnädig herab auf uns fröhliche Gesellen. Schütte das Füllhorn deiner Wunder weiter ungehindert aus, und nähre uns mit Lammschaschlik, der kolchischen Pimpernuss und dem Käse der Chatschapuri-Fladen. Beflügle uns mit Estragonlimonade, ungefiltertem Quevri- Wein und Chacha-Schnaps.

Mit einem Seufzer aber rufen wir dir zu: Lass deine Grenzen verschlossen für die Stimmen des Streites und Unfriedens. Öffne sie nur wieder zu den abtrünnigen abchasischen und ossetischen Provinzen, die einst auch unser Lob so trefflich sangen. Mach, dass die russischen Stiefel, die zuletzt 2008 unsere blühenden Vorgärten verwüsteten, künftig herumtrampeln, wo der Pfeffer wächst. Tritt der Kirche in den Hintern, wo immer sie als Fünfte Kolonne Moskaus auftritt! Und erlaube uns, wenigstens die Hoffnung der Nato zu schauen, auch wenn sich kein Militär mit Verstand für uns die Finger verbrennt. Amen.

Für Georgiens Herrlichkeiten hatten seit jeher auch die Deutschen Augen. Kaukasusdeutsche Auswanderer gründeten 1844 die Tifliser Kolonie, und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zog es Architekten wie den Oldenburger Leopold Bielfeld oder den Dresdner Otto Jacob Simonson nach Georgien. Neben dem in Tiflis geborenen Albert Salzmann, dessen Sohn ein bekannter Karikaturist und Bühnenbildner wurde, schufen sie im Zentrum der Hauptstadt repräsentative kirchliche und weltliche Bauten. Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg war als deutscher Botschafter Mitverfasser der georgischen Unabhängigkeitserklärung im Mai 1918.

Großartig wie die Schweiz, üppig wie Norditalien

Investititionsgebiet in bester Lage. Der Freiheitsplatz.
Investititionsgebiet in bester Lage. Der Freiheitsplatz.

© David Mdzinarishvili/Reuters

Keiner von ihnen aber ist ruhmreicher als der deutsche Journalist und Schriftsteller Arthur Leist, der im Pantheon hoch über der Altstadt von Tbilisi begraben liegt. Nach seiner dritten Georgienreise im Jahr 1892 gab es für ihn kein Halten mehr. Er verließ seine Heimatstadt Breslau und ließ sich für immer in Tiflis nieder. Die Gründe hat er so unbestechlich dargelegt, wie es einem Verzauberten nur gelingen kann. Die Gebirgslandschaften, schreibt er 1903 in „Das georgische Volk“, seien „so großartig wie in der Schweiz“ und die „Niederungen fast ebenso üppig wie die von Norditalien“. Überhaupt fühle sich der Reisende, der vom Schwarzen Meer aus in Batumi an Land gehe, „in ein Paradies versetzt“.

Leists physiognomische Studien, die Mentalitätsdiagnosen und Skizzen weiblicher Schönheit und Seelengröße mögen in die Jahre gekommen sein: Die Farbigkeit seiner Schilderungen aus der Zarenzeit strahlt bis in die heutige postsowjetische Epoche herüber. Unübertroffen auch seine Leistungen als Kulturvermittler. Über 15 Jahre lang war er Chefredakteur der noch immer bestehenden deutschsprachigen „Kaukasischen Post“. Er war auch der Erste, der Shota Rustavelis Ende des 12. Jahrhunderts verfasstes Nationalepos „Der Recke im Tigerfell“, das heute in zahllosen Fassungen und Nacherzählungen vorliegt, in eine europäische Sprache brachte.

Rustaveli, dessen Namen einem an fast jeder Straßenecke begegnet, hat das wenig genützt. Sein kosmopolitisches Werk, dessen Verse die Alltagssprache bis heute durchdringen, ist hierzulande allenfalls ein Gerücht. Ähnliches könnte man von vielen bedeutenden Autoren behaupten. Vazha Pshavela, der mit seinen naturphilosophischen Langgedichten als Georgiens William Butler Yeats gilt, hat nur an entlegenen Orten Spuren hinterlassen.

Und wem käme Aka Morchiladze in den Sinn, wenn es darum geht, den erfolgreichsten und renommiertesten georgischen Gegenwartsautor zu benennen? Sein Schwarzmeerepos „Santa Esperanza“, dessen 36 Heftchen sich in beliebiger Reihenfolge lesen lassen, ging auf dem Buchmarkt unter wie ein Stein. Es ist also höchste Zeit, dass sich Georgien 2018 als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse präsentiert. Schon für den bevorstehenden Herbst sind zahlreiche Titel zeitgenössischer Autoren angekündigt.

Land der kulturellen Überschreibungen und Durchstreichungen

Zeitgenössische Signale. Die Friedensbrücke über die Kura - und das nie eingeweihte Kulturzentrum.
Zeitgenössische Signale. Die Friedensbrücke über die Kura - und das nie eingeweihte Kulturzentrum.

© David Mdzinarishvili/Reuters

Anders als in Georgien selbst wird man sich mit ihnen womöglich auch auseinandersetzen. Der Altphilologe Levan Berdzenishvili, als Parlamentarier, Hochschullehrer und Fernsehtalker der beste Kandidat für die offene Stelle eines georgischen public intellectual, führt beredt Klage, dass in seinem Land offenbar alle schreiben, aber niemand, außer als Freundschaftsdienst, das Entstehende kritisch würdigen will. Es passt eben in diesem Land der kulturellen Überschreibungen und Durchstreichungen, das mal wie Südfrankreich und mal wie der Vordere Orient wirkt, nichts wirklich zusammen.

Als einer der letzten sowjetischen Dissidenten, der für die Mitbegründung der Republikanischen Partei drei Jahre lang in den Gulag wanderte, hat Berdzenishvili mit einer sarkastischen Fiktionalisierung seiner Erlebnisse zwar selbst zur Literaturlawine beigetragen, geht ansonsten aber mit gutem Beispiel voran.

Stalin - ein Denkmal fast ohne Makel

Das Stalin-Museum in Gori, dem eine Autostunde von Tiflis entfernten Geburtsort von Iosseb Bessarionis dse Dzhugashvili, der sich später „der Stählerne“ nannte, muss auch Berdzenishvili ein Grauen sein. Seit seiner Gründung 1957 hat es so gut wie keine Änderungen erfahren. Alle Bestrebungen, der gotischen Protzanlage, in deren Park das tempelartig mit Hammer-und-Sichel-Decke umbaute Elternhaus steht, eine zeitgemäße Ausstellung zu verpassen, sind an der Stadtverordnetenversammlung gescheitert. In der oberen Etage erstreckt sich das Reich des Lichts. Aus einem Wust von Dokumenten tritt Stalin weiter als genialischer Rebell hervor, der sich früh gegen das Priesterseminar und für die Revolution entschied, der mehrmaligen Verbannung nach Sibirien trotzte und ein überragender Staatsmann wurde.

Erst im Parterre, neben dem Souvenirshop, zeigt ein kühler, schlauchartiger Nebenraum, der eigens aufgeschlossen werden muss, andeutungsweise Stalins dunkle Seiten. Was die Fotos aus dem verlorenen georgisch-russischen Zehntageskrieg von 2008 dort verloren haben, wissen allerdings nur die, die jede böse Erfahrung am liebsten in die Abstellkammer verbannen. Das propagandistische Gegenteil, wenn auch unter weitgehendem Verzicht auf Stalin, findet man im Museum der sowjetischen Okkupation, das der amerikafreundliche Ex-Präsident Mikheil Saakashvili im vierten Stock des Tifliser Nationalmuseums einrichten ließ: eine einzige Demonstration gegen die blutrünstigen Monster der früheren Zentralmacht.

Die halbe Stadt ist umkämpftes Sanierungsterrain

Zeitgenössische Signale. Die Friedensbrücke über die Kura - und das nie eingeweihte Kulturzentrum.
Zeitgenössische Signale. Die Friedensbrücke über die Kura - und das nie eingeweihte Kulturzentrum.

© David Mdzinarishvili/Reuters

Nur wenige Gehminuten von der schick restaurierten Altstadt rund um die Sioni-Kathedrale betritt man plötzlich ein Trümmerland. Auf den Straßen, die zum Gudiashvili-Platz führen, der mit seiner Parkbank-Idylle der Zerstörungswut als Einziges standgehalten zu haben scheint, knirscht das Geröll. Manche der Häuser aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert sind schon in sich zusammengesunken, andere lehnen sich gefährlich aufeinander zu und würden einander wohl die Fassade einschlagen, wenn sie nicht Wälder von Eisenträgern davon abhalten würden. Doch kein Krieg, kein kaukasisches Erdbeben hat sich hier ausgetobt. Das Areal ist eine Investitionsruine, nachdem wochenlange, von Kundgebungen und Konzerten begleitete Proteste im Sommer 2012 die unwürdigen Pläne des Wiener Architekturbüros Zechner & Zechner verhinderten.

Die halbe Stadt ist ein umkämpftes Sanierungsterrain, auf dem sich die stadtplanerische Sorge um die Bausubstanz mit dem Raubrittertum von Investoren und Oligarchen verbindet. Der augenfälligste, im Stadtbild ganz und gar fremde Wolkenkratzer, ist seit einem Jahr das Sechs- Sterne-Hotel The Biltmore. Man betritt es durch einen denkmalgeschützten Sowjetbau mit klassizistischer Stalin-Wucht, in dem einmal das Marx-Engels-Lenin-Institut untergebracht war. Der 32-stöckige Turm mit Dachterrasse ist mehrheitlich mit Geldern der Dhabi Group aus den Vereinigten Arabischen Emiraten finanziert worden.

Verrotten der jüngsten Gegenwart

Das ehrgeizigste Projekt wiederum ist die Umgestaltung des Freiheitsplatzes am anderen Ende des Rustaveli-Straße. Wo einst das sowjetische Univermaghi-Kaufhaus stand, will Bidzina Ivanishvili, der 2012/13 ein Jahr als Premierminister der damals neu gegründeten Regierungspartei Georgischer Traum einen Ausflug in die Politik unternahm und heute mit Abstand der reichste Mann seines Landes ist, im September die hypermoderne Galleria Mall eröffnen. Noch umstritten sind seine Vorstellungen, nebenan ein Sieben-Sterne-Hotel mit Seilbahn-Anschluss zu einem Kongresszentrum auf den Sololaki-Hügeln zu bauen, unweit seines privaten, von dem Japaner Shin Takamatsu entworfenen futuristischen Glaspalasts.

Währenddessen verrottet anderswo nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die jüngste Gegenwart. Die extravaganten Bürgerämter, die Saakashvili bauen ließ, bevor er aus dem Land gejagt wurde, nachdem er Georgien von einer Korruption befreit hatte, der er schließlich selbst anheimfiel, sind noch so gut in Schuss wie die transparenten Polizeistationen. Die beiden gigantischen miteinander verbundenen, silbern ummantelten Röhren der nie eingeweihten kulturellen Mehrzweckhalle am linken Ufer der Kura aber sind einfach unbenutzt liegen geblieben: Zeugnisse einer Zwischenzeit, die noch lernen muss, das Alte zu retten, ohne das auch keine Zukunft kommt.

Unter dem Titel „Georgien allein zu Haus“ findet am Samstag, den 1. Juli, in der Villa Elisabeth, Invalidenstraße 3, von 15.30 Uhr bis 22 Uhr ein kulturelles Programm mit Lesungen, Konzerten, Diskussionen und einem Festmahl statt. Mehr unter www.movingpoints.de/georgien

Zur Startseite