zum Hauptinhalt

Kultur: Seid wie die Kinder

Federleicht: Nico and the Navigators spielen „Orlando“ bei den Händel-Festspielen in Halle

Die Sache mit dem Liebeswahnsinn ist ein echtes Problem. Dass einer durchdreht, weil die Frau, die er liebt, mit einem anderen durchbrennt, kann man ja noch verstehen. Aber spätestens wenn eine Handvoll Opernminuten später die ganze Raserei quasi durch ein Fingerschnipsen wieder abgestellt wird und der eben noch Tobsüchtige plötzlich kreuzbrav die realen Beziehungskonstellationen abnickt, dürfte jedem klar sein, dass der Handlung von Georg Friedrich Händels „Orlando“ mit den Erklärwerkzeugen des psychologischen Realismus kaum beizukommen ist.

Denn das 1733 uraufgeführte Stück ist zwar eine der populärsten Händel-Opern, aber eben auch eine der schwierigsten. Erst vor ein paar Monaten war an der Komischen Oper der Versuch des Norwegers Alexander Mörk-Eidem, die krude Stalker-Story um den liebestollen Berserker für bare Münze zu nehmen, gründlich schiefgegangen. Und man darf wohl annehmen, dass sich Nicola Hümpel angesichts dieses Flops bestätigt fühlte, ihre eigene Inszenierung des heiklen Werks vom genau entgegengesetzten Ende her anzugehen. An Halles Opernhaus kümmert sich die Berliner Off-Theater-Macherin keinen Deut um das Woher und Wohin ihrer Figuren und versucht gar nicht erst, glaubwürdige Konstellationen für das allzu Unwahrscheinliche zu finden. Ein poetischer Reigen, der seine Bilder aus der musikalischen Wirkung des Augenblicks schöpft, will ihr „Orlando“ sein. Und weil Hümpels entspannt abstrahierender Ansatz tatsächlich über ganze drei Stunden trägt, könnte es den Hallenser Händel-Festspielen mit dieser Produktion tatsächlich einmal gelingen, frischen Wind in die Barockopernszene zu bringen.

Eine Überraschung ist dieser Erfolg allerdings nicht. Denn erstens haben sich Hümpel und ihre Performertruppe Nico and the Navigators in den letzten Jahren langsam an die Oper herangetastet – mit zwei Schubert-Projekten und zuletzt mit dem ebenfalls für Halle entstandenen (auch im Berliner Radialsystem gezeigten) Händel-Potpourri „Anaesthesia“. Wirkte dieser erste Händel-Bilderbogen freilich streckenweise noch etwas kunstgewerblich, schafft die Anbindung an das Gerüst einer Opernhandlung eine bessere Balance zu der frei assoziierenden Fantasie, mit der Hümpel Händels Arien illustriert. Im pastellfarbenen Bühnenhalbrund (Oliver Proske) gesellt sie den fünf Sängern zwei ihrer Navigators hinzu, die auf die Musik so reagieren, wie es Kinder tun würden: Mal drehen sich Miyoko Urayama und Patric Schott mit ausgebreiteten Armen windmühlenartig im Kreis, mal vollführen sie zu martialischen Tönen eine Art Luftsäbelkaraoke, dann wieder machen sie alberne Faxen mit den Hirtenstäben und Schaffellen, die die Drehbühne gerade herbeigetragen hat. Dem Stück verleiht diese Verlagerung ins Poetische eine verblüffende Leichtigkeit und macht die Figuren quasi durch die Hintertür sogar glaubwürdig. Weil hier alle wie Kinder agieren, und Angelica eben jetzt lieber mit Medoro spielt als mit Orlando, erübrigt sich auch die Frage nach psychologischer Stringenz. Selbst Orlandos Liebeswahn ist hier die Trotzreaktion eines enttäuschten Jungen – impulsiv und grenzenlos, aber eben auch schnell wieder verraucht.

Erstaunlich auch, wie klar die Geschichte bleibt, obwohl die fünf Sänger eigentlich nur durch ihre schräg-märchenhaften Kostüme charakterisiert werden: Angelica mit ihrem silbernen Weltraumprinzessinnen-Kleid, der hasenfüßige Medoro als liebenswürdige E.T.A.-Hoffmann-Figur und der Ritter Orlando als staunender Kinderbuchheld mit Russenmütze und Reiseköfferchen.

Dass es an diesem federleichten Abend gar nicht mehr braucht, liegt auch daran, dass Halle nicht auf Koloraturstars, sondern auf junge, gewandte Darsteller gesetzt hat: der wunderbar kulleräugige junge Brite Owen Willetts, der die gefürchtete Titelpartie mit sinnlichem Alt-Timbre gibt; und der junge Russe Dmitry Egorov (Medoro), ein sahnig weicher Countertenor. Beide sind echte Entdeckungen für die Barockoper. Auch der eher klangschöne als elektrisierende Tonfall, den das Hallenser Festspielorchester unter Bernhard Forck, dem Konzertmeister der Berliner Akademie für Alte Musik, anschlägt, verträgt sich gut mit Hümpels entspannter Händel-Fantasie. Im Orchestergraben wird die Musik eher genossen als erklärt. Und das ist ja auch mal ganz schön.

Jörg Königsdorf

Zur Startseite