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Ein Verkehrspolizist schießt auf den unbewaffneten Philando Castile. Dessen Freundin Diamond Reynolds filmt das Geschehen am 6. Juli in Falcon Heights, Minnesota, und stellt das Video live ins Netz.

© AFP

Self-Made-News: Facebook Live - fünfte Macht im Staat

Millionen Menschen sahen das Video eines verblutenden Mannes, erschossen von einem US-Polizisten. Seine Freundin filmte. Wie verändern Self-Made-News die Öffentlichkeit?

Von Caroline Fetscher

Fünf Finger einer offenen Handfläche nähern sich der Linse. Die Hand wird immer unschärfer, bis sie als Deckel auf einem letzten, verwackelten Bild der Szene klebt, oft begleitet von Schreien, Befehlen, Flüchen. „Weg hier!“ „Hören Sie auf zu filmen!“ „Her mit der Kamera!“

Die Szene findet sich in vielen investigativen Dokumentarfilmen, in denen Polizisten, Wachschützer oder andere öffentlichkeitsscheue Personen sich gegen Aufnahmen wehren. Ihre Gesten werden Teil der Dokumentation, als implizite Beweise dafür, dass sie etwas zu verbergen haben. Längst ist das Filmen im Alltag auch in den brenzligsten Situationen nicht mehr allein Sache von ausgebildeten Leuten. Jeder Teenager, jeder Erwachsene im Besitz eines mit Kamerafunktion ausgestatteten Smartphones kann jederzeit Dokumentarist werden und mögliche Beweise in strafrechtlich relevanten Fällen sammeln.

In den USA ist es nicht mehr erlaubt, dass Polizisten, wie zuvor gang und gäbe, Kameras an Tatorten beschlagnahmen oder das Filmen verhindern, solange der Filmende keiner Polizeihandlung im Weg ist, etwa einer Entwaffnung. Die Regelung soll zur Deeskalation beitragen, und nicht zuletzt kann die Rekonstruktion eines Tathergangs durch Videomaterial für beide Seiten hilfreich sein, auch für die Polizisten.

Die Freundin Diamond Reynolds filmte vom Beifahrersitz aus

Im Bundesstaat Minnesota starben letzte Woche zwei junge afroamerikanische Männer nach Polizeischüssen. Der zweite Fall erregte besonderes Aufsehen. In Falcon Heights, Minnesota, saß Philando Castile, Manager einer Schulmensa, am Steuer seines Wagens, daneben seine Freundin Diamond Reynolds, auf dem Rücksitz deren vierjährige Tochter. Der Wagen kam in eine Verkehrskontrolle, der Fahrer suchte seine Papiere und erklärte dabei, er habe einen Waffenschein und trage eine Waffe.

Der offenbar nervös gewordene Polizist schoss auf den Mann – die Freundin begann, den Officer zu filmen, der im Fenster mit gezückter Waffe zu sehen ist, sowie den blutenden Freund. Zu hören ist auch das Kind auf dem Rücksitz, wie es versucht, die aufgelöste Mutter zu trösten. Zu hören sind die erklärenden Worte der Freundin an den Officer.

Kontrolle und Information: Werden die Smartphone-Videos die fünfte Macht im Staat?

Hilfe kommt zu spät. Der Mann stirbt. Die Freundin aber wehrt sich. Diamond Reynolds postet die Szenen auf Facebook, wo 2,5 bis fünf Millionen Menschen nachträglich zu Zeugen des Geschehens werden, bis das Video unter einem Vorwand entfernt wird. Sie wolle, hatte Reynolds erklärt, dass die Leute „für sich entscheiden, was richtig, was falsch ist“. Auch in Baton Rouge in Louisiana war Stunden zuvor ein Mann von Polizisten erschossen worden, bei einem Supermarkt. Auch hier gab es Spontanfilmer, auch in diesem Fall wurden Videos im Netz hochgeladen.

Die Videos sind Nachrichten, informelle Self-Made-News. Hier entsteht, so der Eindruck, eine fünfte Macht im Staat. Neben Legislative, Exekutive und Jurisdiktion gelten die Medien, insbesondere die öffentlich-rechtlichen, als vierte Gewalt im Staat, ein virtueller Stützpfeiler der offenen Gesellschaft, mit der Aufgabe, die Öffentlichkeit zu informieren und den Staat zu kontrollieren. Zu dieser Gewalt, könnte man meinen, gesellt sich im Zeitalter der digitalen Medien eine neue, noch größere Authentizität behauptende: ein Kollektiv aus Individualreportern, eine jederzeit als Dokumentaristen des eigenen Geschicks oder des Geschicks anderer mobilisierbare Multitude, eine neue Facette der Demokratie.

Diamond Reynolds, die Freundin des am 6. Juli getöteten Autofahrers in Minnesota, hat den Vorfall live gefilmt und spricht bei Demonstrationen gegen Rassismus.
Diamond Reynolds, die Freundin des am 6. Juli getöteten Autofahrers in Minnesota, hat den Vorfall live gefilmt und spricht bei Demonstrationen gegen Rassismus.

© REUTERS

Für hochkomplexe, moderne Gesellschaften, in denen mehr denn je von Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung die Rede ist, müsste dieser Umstand einen riesigen Fortschritt bedeuten. Doch ist es tatsächlich so? Und was sagt diese Wandlung der Öffentlichkeit über sie selber aus, über uns?

Der Anglerfisch hat sich ein Hilfsinstrument ausgebildet, eine Leuchte

Am Meeresgrund, dort, wohin kein Sonnenstrahl dringt, leben seltsame Wesen. In tausend Metern Tiefe liegt die Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt. Unwirtlich ist das Ambiente, ungemütlich, es erfordert besondere Anpassung. Dort hat die Gattung der Anglerfische aus einer Rückenflosse ein Hilfsinstrument ausgebildet. Vor dem Fischkopf, am Ende der Angel, baumelt eine Leuchte. Andere Tiere in der Tiefe haben riesige, teleskopartige Augen, um Gefahren erkennen, Signale empfangen zu können. Dergestalt ausgestattet bahnen sich die Wesen ihren Weg durch eine salzige, kalte, dunkle Welt.

Der Anglerfisch trägt seine Leuchte in der Tiefsee vor sich her.
Der Anglerfisch trägt seine Leuchte in der Tiefsee vor sich her.

© dpa

An die Anglerfische kann man denken angesichts der Millionen Menschen, die mit einem Smartphone durch die Gegenwart wandern, einem kleinen, leuchtenden Ding, das wie angewachsen wirkt, wie ein weiteres Sinnesorgan. Unablässig sendet und empfängt es Signale, dient der Navigation und Orientierung – und gilt mittlerweile als unverzichtbar. Erfunden wurde diese in den Industrienationen omnipräsente Prothese zum Zweck der Kommunikation, Information und Unterhaltung. Fotos, Ansichten, Nachrichten austauschen, Musik hören, Notizen machen, telefonieren – smart wird das alles möglich, an so gut wie jedem Ort. Eine von räumlichen und technischen Einschränkungen befreiende Technologie, deren soziale Schattenseite in Verlustanzeigen des analogen Lebens viel diskutiert wird.

Tiefsee der Gegenwart: Jederzeit kann das Smartphone die Lage erhellen

Wenn man die Geräte aber als wandelnde Ermittlungswerkzeuge betrachtet, wenn Facebook und Twitter zum veritablen Medienersatz werden, entsteht noch ein ganz anderes Szenario. Smartphones werden zu Symptomen für eine zunehmend in die sozialen – respektive antisozialen – Netzwerke diffundierende Neben-Öffentlichkeit, die sich weniger an den Leitmedien der großen Fernsehkanäle orientiert als am Selbstgemachten. In diesen sich multiplizierenden Nebenräumen sehen sich die Smartphone-Halter wie die Anglerfische unter Anpassungsdruck an eine als finster, kalt und ungerecht empfundene Welt. In der asozialen, intransparenten Tiefsee der Gegenwart erleben sie sich als paranoide Einzelkämpfer. Es gilt dort, auf dem Quivive zu sein, jede Sekunde bereit, sein eigener Zeuge zu werden.

Der Befund ist traurig, und er ist gefährlich. Wo die Entfremdung vom „System“ – der demokratischen Gesellschaft und der „Lügenpresse“, den demokratischen Medien – fortschreitet, ist die nächste Stufe nicht weit: die technische, politische und kriminelle Manipulation des Materials von Self-Made-News. So sinnvoll der Einsatz der Videos angesichts der schockierenden Ereignisse in den USA wirken mag, so verlockend der Traum der vernetzten Multitude: Ein in Millionen Partikularinteressen zersplitterter öffentlicher Raum löst sich auf. Er hört auf, überhaupt ein Raum zu sein, zerstäubt die Öffentlichkeit, endet in Anomie. Mehr denn je wird mediale Aufklärung zur gesamtgesellschaftlichen Aufgabe – weg von der Tiefsee, ans demokratische Festland.

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