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Kultur: Sex im Süden

Die Sizilianerin Melissa P. stellt heute in Berlin ihr erotisches Opus „Mit geschlossenen Augen“ vor

Wie sich die Zeiten ändern: Als in Berlin die Mauer fiel, erregte sich Italien über das Skandalbuch einer 19-jährigen Sizilianerin. Lara Cardella beschrieb unter dem Titel „Ich wollte Hosen“ (deutsch als Fischer Taschenbuch) die sexuelle Ausbeutung der Frau in der süditalienischen Gesellschaft. Das war ein ziemlich biederer Text, ganz ohne voyeuristische Akzente. Dennoch gab es wütende Proteste, und die Autorin konnte sich eine zeitlang in ihrem Heimatort Licata bei Catania nicht mehr in der Öffentlichkeit zeigen.

Als aber letzten Sommer in Italien das erotische Tagebuch einer 17-jährigen sizilianischen Schülerin mit dem Titel – wörtlich übersetzt – „Hundert Bürstenstriche vor dem Schlafengehen“ erschien, gab es zwar ein gewaltiges Medienecho, doch von Aufregung, Empörung gar, war wenig zu entdecken. Dagegen zitierten Zeitungen und TV-Berichte süffisant Beispiele aus den Aufzeichnungen der Melissa P. genannten, wiederum aus Catania stammenden Autorin. Das literarisch eher wertlose Buch lebt allein von den feuchten Stellen – von der Defloration bis zu brutalem Gruppensex und dem Verkehr mit meist älteren Männern, die sie auch schon mal „Loly“ nennen. Was immerhin einen Hauch von kulturellem Hintergrundwissen andeutet.

Melissa P. alias Paranello bezeichnet ihr soeben unter dem deutschen Titel „Mit geschlossenen Augen“ als Goldmann-Taschenbuch erschienenes Werk (159 Seiten, 7,95 €) als einen „Bildungsroman“. Diskutiert wurde in Italien indes, warum in der immer noch relativ geschlossenen Gesellschaft einer sizilianischen Provinzstadt Eltern ihrer minderjährigen Tochter die Veröffentlichung eines pornografischen Textes erlaubt haben. Und ob da statt eigenem Erleben nicht doch die Männerfantasie eines älteren (Co-)Autors im Spiel sei.

Die heute in Rom lebende 18-jährige Melissa, die in Talkshows auftrat, den großen Tageszeitungen Interviews gab und im Internet mit ihren Fans chattet, ist natürlich ein „Fall“. Heute Abend tritt sie nun auch in Berlin beim Festival „Italien im Gegenlicht“ auf. Und ihr schmales Büchlein aus dem seriösen römischen Fazi-Verlag, in dem beispielsweise die Übersetzungen der Bücher des Berliner Politikwissenschaftlers Ekkehart Krippendorff erscheinen, hat sich in Italiens Buchläden und Supermärkten bislang mehr als 800000 mal verkauft; so schwimmt Melissa weit oben auf der internationalen Welle der Lolita- und Nymphomania-Bücher, von der Französin Catherine Millet („Catherine M.“), der Amerikanerin Zoe Trope („PoMosexaul“) bis zur Japanerin Iijima Ai („Platonic Sex“).

Aber was ist in Italien in den vergangenen 15 Jahren, die zwischen Lara Cardella und Melissa P. liegen, passiert? Sicher gehören Macho-Allüren und sexuelle Bigotterie zur latino-katholischen Tradition. Aber wie in kaum einer anderen westlichen Gesellschaft haben sich in Italien die Medien des weiblichen Körpers bemächtigt. Sogenannte „Veline“, Showgirls in Sport-, Talk- und Nachrichtensendungen, bieten heute bereits am Nachmittag tiefere Einblicke als der berühmte Pornostar „Cicciolina“ (Ilona Staller) vor 20 Jahren in seinen Nachtsendungen. Die Werbung verkauft Autos mit Frauenschenkeln, Bier mit Busen und Uhren mit Domina-Appeal. Und den am Kiosk aushängenden Pornoheften entsprechen die traurigen Sex-Clips in den Nachtschleifen der Billig-TVs. „In dem Augenblick, indem die sexuelle Attraktion Anziehung für Waren erzeugt, hört die Sexualität auf, ein Tabu zu sein“, schreibt der Philosoph und Psychologe Umberto Galimberti in seinem gerade bei Feltrinelli erschienenen Buch „I vizi capitali e i nuovi vizi“ („Die sieben Todsünden und die neuen Sünden“). Sexualität werde so zur Parodie ihrer selbst.

Die Werbung macht in Süditalien, wo das Fernsehen das Tor zur Welt bedeutet, die Parodie dann zum Leitmotiv, das sich auch in Texten wie dem von Melissa P. niederschlägt. Die Schriftstellerin Lidia Ravera, die zu 68er Zeiten zusammen mit Marco Lombardo-Radice das erste Buch über die sexuelle Revolution des Südens geschrieben hat („Schweine mit Flügeln“), sieht das freilich gelassen: Nirgendwo werde so viel über Sex geredet wie in Italien – und nirgendwo so wenig praktiziert.

Melissa P. liest und diskutiert heute um 20 Uhr auf der Berliner Museumsinsel vor der Alten Nationalgalerie (Eintritt 5 €).

Henning Klüver

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