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Kultur: Sex oder Wie er die Welt veränderte Die befreiende Wirkung der Wahrheit: Bill Condons Hommage an den Aufklärer Kinsey

Schuld an allem ist wahrscheinlich Kinseys Vater. Lehrer an der Sonntagsschule, ein strenger, humorloser amerikanischer Puritaner.

Schuld an allem ist wahrscheinlich Kinseys Vater. Lehrer an der Sonntagsschule, ein strenger, humorloser amerikanischer Puritaner. Der Sohn, Alfred C. Kinsey, lernt von ihm, dass jede Form von Lust den Niedergang der Nation befördere und schon die Erfindung des Reißverschlusses moralisch verwerflich sei. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Sex absolut tabu, in Amerika wie überall sonst in der westlichen Welt. Noch unsere Eltern wussten in der Hochzeitsnacht kaum, was sie nun wie miteinander anstellen könnten.

Kinsey, der Sohn, ist ein kränkliches Kind. Er entdeckt die Natur als Fluchtort, rebelliert gegen den Vater, bricht sein Ingenieursstudium ab, wird Biologe an der Universität von Indiana und erforscht 20 Jahre lang – die Gallwespe. Ihn fasziniert, dass jedes dieser harmlosen Insekten von der Größe einer Ameise einzigartig ist. Nicht zwei gleiche Gallwespen gibt es auf der Welt! Eine Erkenntnis, die er eines Tages auf das Triebwesen Mensch überträgt: Wenn niemand normal ist, kann auch keiner abartig sein!

Seine Karriere als Sexforscher beginnt Kinsey mit einem harmlosen Uni-Ehekurs. Er erhält Geld von der Rockefeller-Stiftung, baut ein wissenschaftliches Team auf und entwickelt sensible Umfrage-Techniken, mit deren Hilfe er sich Einblicke in zunächst 18000 amerikanische Schlafzimmer verschaffen kann. 1948 erscheint der erste Kinsey-Report, „Die Sexualität des Mannes“. Ein Bestseller. Ein Skandal. Als er 1953 „Die Sexualität der Frau“ nachlegt, streicht die Rockefeller-Stiftung kurz darauf die Zuschüsse.

Das Aufregende an Bill Condons Filmbiografie „Kinsey“, deren europäische Erstaufführung auf der Berlinale gefeiert wurde, ist das Unaufgeregte daran. Dass der schrullige Wissenschaftler mit seiner Grundsatzforschung zum Sex in den Vierziger- und Fünfzigerjahren Furore machte und die sexuelle Revolution der Sechziger ohne ihn nicht denkbar wäre, erzählt Condon („Gods and Monsters“) mit fast akademischer Detailfreude: in nüchternen, graubraun gehaltenen und sich erst allmählich aufhellenden Bildern. Man spürt ihn förmlich, den Mief jener Ära, die Verstörung und Hilflosigkeit erwachsener Menschen, wenn es um Haut und Haar und den eigenen Körper ging – von dem des Liebsten zu schweigen. Man hatte keinen Begriff vom Sex, keine Wörter, keinen Spaß, keine Erfahrung. Nur Beklemmung.

Liam Neeson, Hauptdarsteller von „Schindlers Liste“, ist Professor Kinsey. Spitzname Prok, ein wissensdurstiger, unerschrockener Kindskopf mit Fliege, Bürstenhaarschnitt und unersättlicher Neugier. Neeson verkörpert geradezu Kinseys Staunen über die Vielfalt der menschlichen Sexualität. Ein altmodischer Pionier, der vor Selbstexperimenten nicht zurückschreckt. Er probiert schwule Praktiken mit seinem Kollegen Clyde (Peter Sarsgaard) aus, treibt sich in Homo-Bars herum und führt mit Ehefrau Clara (Laura Linney) das, was man heute eine aufgeklärte Ehe nennt. So erzählt „Kinsey“ auch von einer anrührenden, leidenschaftlichen Liebe, vom Glück und den Krisen eines Paars, das selbst in Zeiten der bitteren Anfeindung zusammenhält. Und das den Sex als Spiel auf unbekanntem Gelände begreift, dessen Grenzen in den Gefühlen des anderen liegen. Mehr als einmal muss Kinsey erfahren, wie sehr er seine Frau mit den Freiheiten verletzt, die er sich zunächst ungefragt nimmt.

„Kinsey“ ist ein verhaltenes Melodram, ohne große Schauwerte, mit nur wenigen Szenen, die sich ins Gedächtnis einprägen. Aber es ist auch eine melancholische Komödie über eine Zeit, in der die meisten noch glaubten, Onanieren sei entsetzlich gesundheitsschädlich, Ehebruch die seltene Ausnahme und Homosexualität eine gefährliche Krankheit. Man amüsiert sich über so viel Unwissenheit – und erschrickt. Denn diese Zeit liegt ja erst ein paar Jahrzehnte zurück. Es gehe um die befreiende Wirkung der Wahrheit, sagt John Lithgow, Darsteller des Vaters, der dem Sohn am Ende wenigstens für ein paar Minuten die eigene Tragik offenbart.

Können Gedanken die Welt verändern? Offenbar nur vorübergehend: Alfred Kinsey, über den T.C. Boyle gerade seinen neuen Campus-Roman „Dr. Sex“ veröffentlicht hat, scheint Konjunktur zu haben. Im Amerika der neuen religiösen Rechten, in dem konservative Politiker und Popstars wie Britney Spears wieder die Jungfräulichkeit vor der Ehe propagieren und sich die Bush-Wähler mehr über die SchwulenEhe echauffieren als über den IrakKrieg, ist Kinseys Report in der Tat erschreckend aktuell. Auch im Michael-Jackson-Prozess mischen sich ja Sensationsgier und Prüderie.

Aber über die Normalität der sozialen und sexuellen „Abweichung“ will in den USA zurzeit kaum jemand Genaueres wissen. Bill Condons Hommage an den sanften Freiheitskämpfer Alfred Kinsey ist dort gefloppt.

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