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Sexuelle Identität: Alte Verbote produzieren alte Gewalt

Der Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch über Pädophilie, Katholizismus und Reformpädagogik.

Volkmar Sigusch, Jahrgang 1940, gilt als Begründer und Leitfigur der deutschen Sexualmedizin. Von 1973 bis zu seiner Emeritierung 2006 war er Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft am Klinikum der Frankfurter Goethe-Universität. Sein Denken ist stark soziologisch geprägt. In seinem Buch „Neosexualitäten – Über den kulturellen Wandel von Liebe und Perversion“ (2005) untersuchte er die Auflösung und Vervielfachung klassischer sexueller Identitäten.

Sie haben wiederholt darüber geschrieben, wie in den letzten Jahrzehnten sexuelle Perversionen enttabuisiert wurden. Warum gilt das nicht für pädophile Neigungen?

Pädophilie ist tatsächlich eines der letzten sexuellen Tabus, weil die kindliche Sexualität, ein dunkler Kontinent, bei uns tabu ist. Uns befällt im Erwachsenenalter eine Amnesie, wir vergessen viel von dem, was wir in der Kindheit erlebt haben. Darüber hinaus hat die Emotionalisierung des Familienlebens seit dem 19. Jahrhundert dazu geführt, die Familienmitglieder auf sexuelle Distanz zu bringen und das Inzesttabu einzurichten. Und ein letzter Grund, warum wir Pädophilie als bedrohlich wahrnehmen, sind unsere Vorstellungen von Kindheit als dem letzten Refugium von Vertrauen, Sicherheit und unschuldiger Liebe.

Seitdem die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg bekannt wurden, reißen die Selbstoffenbarungen der Opfer nicht mehr ab. Ist das Zufall, oder war die Zeit reif, das Schweigekartell zu brechen?

Ich denke, die Zeit war reif. Wir haben in den letzten Jahrzehnten verschiedene Debatten über Gewalt und sexuelle Übergriffe geführt. Mittlerweile sind die traumatisierten Opfer in einem Alter, in dem sie die Sicherheit gewonnen haben, öffentlich über das zu sprechen, was ihnen angetan wurde.

Es wurde aber auch der Vorwurf laut, das liberale Klima nach der sexuellen Revolution hätte die Vertuschung begünstigt.

Soweit es um die schockierenden Verhältnisse an der Odenwaldschule geht, muss ich dem indirekt zustimmen. Offenbar wurde dort die sexuelle Revolution ausgenutzt und ein parasitäres Klima erzeugt, um die eigenen Präferenzen auszuleben. Das heißt aber nicht, dass die Vordenker der sexuellen Befreiung beabsichtigt hätten, Kinder zu missbrauchen und sexuelle Gewalt zu predigen.

Die Einrichtungen der katholischen Kirche und der Reformpädagogik sind kulturell sehr unterschiedlich verankert. Sehen Sie gemeinsame Strukturen, die den Missbrauch beförderten?

Es handelt sich in beiden Fällen um geschlossene Anstalten, die wie Wagenburgen organisiert sind, nach außen abgeschottet und nach innen eine verschworene Gemeinschaft mit charismatischen Anführern. In den Schulen werden familienähnliche Strukturen ausgebildet, und die Familie darf nicht verraten werden. Was dort passiert, dringt nicht nach außen. So weit handelt es sich um Gemeinsamkeiten. Unterschiede gibt es im Hinblick auf die sexuelle Substanz. Nach allem, was ich gehört habe, waren an der Odenwaldschule unreife Homosexuelle am Missbrauch beteiligt, die Angst vor erwachsenen Männern hatten. Zum andern handelt es sich offenbar um Ephebophile, das heißt Lehrer, die Jungen in der Pubertät an sich gezogen haben. Bei den Katholiken haben wir es offenbar mit einer Gemengelage von unreifen Pädophilen oder Homosexuellen, sexuell Amorphen und Perversen zu tun, wobei der Schwerpunkt eindeutig bei den Pädophilen liegt.

Bei den Tätern handelt es sich um Männer. Warum hört man nichts aus Einrichtungen, in denen vorwiegend Frauen leben?

Wir überblicken momentan Ereignisse der letzten 50 Jahre, und in dieser Zeit wurde das Sexuelle vorwiegend über das Modell Mann definiert. Auch die sexuelle Revolution wurde von Männern dominiert. Insofern rechnen wir momentan mit der Männersexualität ab. Ich begrüße das, aber ich kann mir vorstellen, dass wir irgendwann auch über die Dunkelzonen weiblicher Sexualität sprechen, denn wir wissen aus der Forschung, dass auch Frauen Kinder sexuell missbrauchen.

Würde die Abschaffung des Zölibats wenigstens in der Kirche einen Teil des Problems lösen?

Ja, denn der Zölibat zieht auf jeden Fall pädophile Männer an, die sich, oft halbbewusst, mit ihrer Neigung darin aufgehoben fühlen oder sie dort ungeschehen machen wollen. Und da die katholische Kirche eine homophile Gemeinschaft ist, wirkt sie auch auf strukturell homophile Männer attraktiv.

Der Papst hat angekündigt, pädophile Seelsorger in schweren Fällen in den Laienstand zu versetzen. In der Öffentlichkeit wird sogar über ein Berufsverbot diskutiert. Halten Sie das, unter der Voraussetzung, dass Pädophile sexuell nicht einfach „umpolbar“ sind, für gerechtfertigt?

Nein, das geht nicht. Diese Menschen haben ein psychosoziales Schicksal zu tragen, für das sie nicht verantwortlich sind. Man kann von ihnen erwarten, dass sie sich zurückhalten und sublimieren, aber man kann sie nicht einfach aus ihrem Beruf werfen. Pädophile Priester können ihrer Berufung weiter nachgehen, wenn man sie von Kindern fernhält.

Wir reagieren empört, wenn Kinder hierzulande missbraucht werden, aber Sextourismus, bei dem oft ebenfalls Kinder beteiligt sind, nehmen wir relativ gelassen zur Kenntnis. Das wirkt nicht glaubwürdig.

Mich regt das sogar sehr auf. Das gilt übrigens nicht nur für den Sextourismus, sondern auch für die Debatte über Kinderpornografie. Alle sagen, es muss etwas passieren, aber nichts geschieht. Außerdem ist es heuchlerisch, sich über Missbrauch aufzuregen, aber nichts in die Kinder zu investieren und in die Einrichtungen, die Kinder schützen könnten.

Erst das Verbot macht das Sexuelle groß, haben Sie einmal konstatiert. Sollte uns die augenblickliche Lage aber nicht veranlassen, einige Verbote aufrechtzuerhalten?

Wenn alles erlaubt und ungefährlich ist, fehlt natürlich der Thrill. Die Verbote aber, um die es in der alten Sexualmoral geht, produzieren sexuelle Gewalt. Deshalb müssen sie fallen.

Gilt das auch für das Inzesttabu?

Auf keinen Fall.

Das Gespräch führte Ulrike Baureithel.

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