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Sherlock Holmes: Grauen im Gaslicht

Dem britischen Autor Anthony Horowitz gelingt mit seinem Roman "Das Geheimnis des weißen Bandes" eine zeitgemäße Modernisierung des Mythos Sherlock Holmes.

Sherlock Holmes ist tot. „Leblos und still“ fand man den Meisterdetektiv in seinem Haus. So berichtet es sein Chronist John Watson, als er nach dem Ableben seines Freundes endlich den Mut findet, jene Ereignisse aus dem Winter des Jahres 1890 aufzuschreiben, von denen er sagt, „dass sie das gesamte Gefüge der Gesellschaft zerreißen könnten.“

Es sind hochtrabende Worte, die der britische Autor Anthony Horowitz seinem Sherlock-Holmes-Roman voranstellt. Was ist schon „zu ungeheuerlich und schockierend, um gedruckt zu werden“? Und natürlich versteckt sich in diesem Buch kein so potenter Sprengstoff, als dass der soziale Kitt Großbritanniens ernstlich in Gefahr wäre, wohl aber eine Geschichte, die auch abgebrühte Leser nachhaltig zu erschüttern vermag.

„Das Geheimnis des weißen Bandes“ heißt der Roman, den die Rechteverwalter des Sir Arthur Conan Doyle Literary Estate höchst offiziell als 61. Fall des berühmtesten Detektivs der Literaturgeschichte anerkannt haben. Eine Ehre, die vorher noch keinem der zahllosen Epigonen des Sherlock-Holmes-Erfinders zuteil wurde.

Der Titel ist gut gewählt, weil er nicht nur Erinnerungen an das Original-Holmes-Abenteuer „Das gefleckte Band“ weckt, sondern auch an Michael Hanekes „Das weiße Band“, jenen Film über zerstörte kindliche Unschuld.

Die Geschichte beginnt ganz klassisch, als der Galerist Edmund Carstairs die Räume in der Baker Street 221b betritt. Der Mann fühlt sich bedroht. Er erzählt von geraubten Gemälden, von einer Gangsterbande aus Boston, von einem Mann, der ihn verfolgt. Sherlock Holmes nimmt die Ermittlungen auf und scheint fast schon am Ziel zu sein, als eines der Straßenkinder, das er zur Überwachung eines Verdächtigen abgestellt hatte, ermordet aufgefunden wird. Beine und Arme gebrochen, die Kehle aufgeschlitzt, am Arm ein weißes Seidenbändchen.

Spätestens hier wird es spannend, weil Horowitz, der sich bislang als Autor der TV-Krimiserie „Inspektor Barnaby“ und der Jugendbuchreihe „Alex Rider“ einen Namen gemacht hat, nicht mehr nur die bekannten Requisiten Arthur Conan Doyles hin- und herschiebt, sondern auch ein wenig Elend in seine Geschichte einfließen lässt, ein Elend, das an Charles Dickens erinnert. Neben den holzgetäfelten Clubs liegen die dreckigen Absturzkneipen, in denen die minderjährigen Angestellten in Verschlägen hausen, und neben den Landsitzen des Adels stehen die kasernengleichen Waisenheime. Gegensätze, die auch der Schauspieler Johannes Steck in der parallel zum Buch erschienen Hörfassung facettenreich zu interpretieren weiß.

Natürlich ist vieles konstruiert an diesem verschachtelten und auf mehreren Ebenen verbundenen Fall, aber Anthony Horowitz treibt den Plot zügig voran und erschafft eine fesselnde Szenerie. Mehr noch überzeugt seine Geschichte aber dadurch, dass sie ein Verbrechen nicht nur beschreibt, sondern die damit einhergehende Irritation fühlbar macht – wenn nämlich das Unfassbare in den vermeintlich heilen Alltag einbricht.

All die Droschken, Gaslaternen und guten Manieren des Personals wiegen den Leser lange in der trügerischen Sicherheit, dass er es im schlimmsten Fall mit Mord aus Habgier oder Eifersucht zu tun bekommen wird. Als es anders kommt, ist der Schock umso größer. Man muss sich das vorstellen, als würden Ernie und Bert in der „Sesamstraße“ plötzlich gefoltert werden.

Anthony Horowitz ist weit mehr als nur eine weitere Würdigung oder präzise Imitation von Arthur Conan Doyles Figur gelungen. Er modernisiert einen Mythos. Sherlock Holmes lebt.

Anthony Horowitz: Das Geheimnis des weißen Bandes.

Roman. Aus dem Englischen von Lutz-W. Wolff. Insel Verlag, Berlin 2011, 350 Seiten, 19,95 €

Hörbuch. Gelesen von Johannes Steck. Goya Lit/Jumbo Neue Medien, Hamburg 2011, 4 CDs, 17,99 €

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