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Kultur: Shoppen und Schaudern: Das Blut sickert aus Designertüten

Es ist Abend, und vom Hudson River weht ein kühler Wind durch die düstere 13th Street. Den penetranten Aasgeruch vertreibt er nicht.

Es ist Abend, und vom Hudson River weht ein kühler Wind durch die düstere 13th Street. Den penetranten Aasgeruch vertreibt er nicht. Ein elegantes Paar entsteigt einem Taxi und bahnt sich seinen Weg zwischen Knochenresten, schwarzen Müllsäcken und Kartons, aus denen Blut sickert. Durch eine rostende Stahltür betreten sie ein teures Etablissement, das sich "Fressen" nennt. Was sich wie eine Szene aus einem Horrorheftchen über Neokannibalismus in der Großstadt liest, ist abendlicher Alltag im Meatpacking District, Manhattans jüngstem Szene-Viertel.

Mitten in der Stadt, im Nordwesten von Greenwich Village, ist noch heute das Zentrum der New Yorker Fleischproduktion angesiedelt. Auf dem kleinen Gebiet zwischen Neunter und Zehnter Avenue und Gansevoort und 14. Straße konzentrieren sich seit Ende des 19. Jahrhunderts Schlachthöfe und Fleischfabriken. Sanitäre Bedenken und Beschwerden von Seiten wohlhabender Nachbarn im Westvillage, die nicht mehr das angstvolle Blöcken der Tiere hören wollten, führten zwar in den 70er Jahren zur Verbannung der Schlachthöfe aus Manhattan. Doch auch heute noch fließt im Meatpacking District Blut, wenn die in den Suburbs und der Bronx getöteten Rinder, Truthähne und Schweine hier für den Verkauf zerteilt und weiterverarbeitet werden.

Tagsüber stauen sich Trucks in den Strassen, aus denen Arbeiter hunderte von Schweinehälften schultern und in die alten Ziegelsteingebäude bringen. Noch am Abend spricht das Viertel alle Sinne an: An den eingeschwärzten Mauern künden die abblätternden Schriftzüge von Firmen wie Atlas Meat und Royale Veal von Vergänglichkeit. Der Besucher riecht die Gegenwart von Tod und Verwesung und er geht über einen - nicht nur für Vegetarier - ekelerregenden Film aus altem Blut und Fett.

Hier traf sich bisher nachts ein sehr spezielles Milieu. Dazu gehören die im urbanen Manhattan isolierten Trucker und die Harley-Davidson-Biker. Sie versammeln sich in Bars, an deren Wänden BHs wie Skalps aufgehängt werden. Lautstark geht es zu, bei Bier, Musik von ZZ Top und patriotischen Parolen. Nur wenige Meter entfernt trifft sich ein ganz anderer Personenkreis: Der Club mit dem passenden Namen "Mother" ist ein wichtiger Treffpunkt der Sado/Maso- und Fetisch-Szene.

Die Strassen zwischen den Clubs und Bars sind zudem schon seit Jahrzehnten die Heimat von transsexuellen Prostituierten und Transvestiten, die zwischen den Fleischabfällen auf ihre Kunden warten. Seit einigen Monaten haben die Stammgäste des Viertels jedoch Gesellschaft bekommen. Das Meatpacking District durchläuft einen dramatischen Wandel hin zum Abenteuerspielplatz der Reichen, Schönen und Hippen. Eine Handvoll Galeristen machte den Anfang und verlegte ihre weißen Ausstellungsräume aus den überteuerten Galerienvierteln Soho und Chelsea in die Nachbarschaft der Metzgerhallen von Western Beef.

Allein auf dem westlichsten Block der 14th Street findet man sechs Galerien. So kann nun die New Yorker art- und fashion-crowd zunächst bei dem Shooting Star der Galeristenszene Gavin Brown den Elefantenkot auf den Gemälden des skandalträchtigen britischen Künstlers Chris Orfili begutachten, um danach schaudernd über reale Knochen zu stolpern. Den Galerien folgten bald teure Restaurants und Boutiquen. Wer etwas auf sich hält im New Yorker Medien-, Kultur- und Modebetrieb, macht am Samstag einen Ausflug ins Meatpacking District. Statt weißer Trucks drängeln sich dann gelbe Taxis und schwarze Limousinen vor der High-End-Boutique Jeffrey.

Dort kann man Stars und solche, die es werden wollen, bei der Bewältigung ihrer Probleme beobachten: Beraterteams helfen ihnen bei der Auswahl zwischen hunderten von Schuhen ausgewählter Designer wie Prada, Jil Sander und Manolo Blahnik. Der Laden, der sich wie ein überdimensionales weißes Loft über einen gesamten Block erstreckt, dient den Besuchern auch als Kurort: Der Springbrunnen, die parfümierte Luft, die Musikberieselung und die weichen Ledersofas machen die Boutique zum Stil-Sanatorium und laden zur Erholung vom urbanen Stress ein. Zum Dinner treffen sich die Designer, Künstler und Redakteure dann in den notorisch ausgebuchten Restaurants wie dem minimalistischen "Fressen" oder dem französelnden "Pastis", das vor einigen Monaten vom geschäftstüchtigen Gourmet Keith McNally unweit vom Transvestitenstrich eröffnet wurde. Nicht nur die Trucker in den billigen Bars sondern auch die New York Times und die Village Voice befürchten nun, dass die "bourgeoisification" die Meatpacker vertreiben und damit dem Viertel seinen düsteren Charme rauben wird.

Das Phänomen wird von den Soziologen als "gentrification" bezeichnet: Sozial schwache Stadtteile ziehen Menschen mit hohem kulturellen Kapital, aber geringen finanziellen Mitteln an, also Künstler, Studenten und Mitglieder von aufstrebenden Subkulturen, die das jeweilige Stadtviertel durch ihre Anwesenheit und die Produktion von kulturellen Räumen interessant machen. Wenn die kulturellen und symbolischen Aktien einer "neighbourhood" auf diese Weise gestiegen sind, drängt das ökonomische Kapital nach. So wurden in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten Greenwich Village, SoHo, Tribeca, das East Village und Chelsea gentrifiziert: Erst kamen die Künstler und Kneipen, dann die kleinen Galerien, es folgten die Mode, die Medien und der Tourismus.

Mit dem Prestige stiegen die Mieten, mit den steigenden Mieten kamen die Sanierungstrupps und neue wohlhabende Bewohner. In Soho mussten in den letzten Jahren viele der eingesessenen Galerien der Mode-Industrie weichen, sie verzogen sich nach Chelsea und beginnen nun bereits wieder vor den horrend gestiegenen Mieten zu fliehen. Douglas Heller ist einer von ihnen: In den frühen Achtzigern zog er mit seiner Galerie von der traditionell teuren Upper East Side ins damals noch erschwingliche SoHo. Vor zwei Jahren übernahm dann die Designerin Vivienne Westwood seine inzwischen unbezahlbar gewordenen Ausstellungsräume und Heller wanderte weiter ins Meatpacking District. Wenn sein Vertrag in zwei Jahren ausläuft, wird er wohl wieder die Koffer packen müssen.

Die Künstler und Studenten, die Trendsetter und Trendsucher, befinden sich in einer Zwickmühle: Sie machen ein Viertel bewohnbar und interessant, nur um es dann wieder verlassen zu müssen. Das Interessante am Phänomen Meatpacking District ist jedoch, dass sich hier der oben beschriebene Prozess beschleunigt hat. Denn den Künstlern und Galeristen folgte auf dem Fuß die durch den Wirtschaftsboom der letzten Jahre gestärkte Luxusklientel. Die schockierende Anwesenheit von Kadavern und Knochen schreckte die erlebnishungrige Internationale der Leser von Vogue und Wallpaper nicht ab. Auf dem Weg von der Galerie zur Brasserie wandeln sie in Prada-Kostümen und Gucci-Anzügen über das wahrhaftig ochsenblutfarbene Trottoir und genießen den Kontrast, den sie selbst produzieren: Das alte Viertel und seine neuen Besucher wirken wechselseitig als visuelle Verstärker.

Zum Beginn des neuen Jahrhunderts tollt sich der New Yorker Jetset also in einem fin-de-siecle Themenpark. Ob der gruselige Reiz bestehen bleibt? Werden die Filets Mignon bald woanders zugeschnitten werden? Steve Long von der Galerie Long Fine Art ist gespannt und hält Ausschau. Noch profitiert er von den Kunden der benachbarten Edel-Boutique: Sein Umsatz hat sich im letzten Halbjahr verdreifacht.

Tobias Timm

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