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Fremde Heimat. Tobias Rausch hat sein dokumentarisches Stück „Fluchtpunkt Berlin“ am Deutschen Theater auf der Grundlage von Interviews inszeniert.

© Eventpress Hoensch

Show und Wirklichkeit: Noch mehr Dokutheater: „Fluchtpunkt Berlin“

.Dokumentarisches Theater erfordert nicht weniger, es fordert mehr Fingerspitzengefühl als die klassische Stück-Inszenierung. Das sieht man aktuell gerade wieder in Tobias Rauschs Stück "Fluchtpunkt Berlin".

Die Not in der Welt ist groß. Die Not des Theaters auch. Dokumentar- oder Recherchetheater mit Stoffen aus der Wirklichkeit – inzwischen ist die Nervosität der Theater, das „Ungenügen ..., dem Bezugsrahmen des Ästhetischen verhaftet zu bleiben“, wie es in dem bald startenden Projekt „Phantasma und Politik“ im Hau heißt, so groß, dass dokumentarische Inszenierungen schon fast die Hälfte der Januarpremieren ausmachen. Man reibt sich verwundert die Augen.

Am Gorki greift Fritz Kater in „Demenz, Depression und Revolution“ – ohne sich je um die Rechte gekümmert zu haben - nach der Biografie von Robert Enke und nimmt die Passagen nach Protest von Enkes Witwe kleinlaut wieder aus dem Programm. Am Hau nähert sich Hans-Werner Kroesinger den Beziehungen zwischen Deutschland und Somalia, und das Deutsche Theater präsentiert gleich zwei Abende, die auf Interviews basieren: Andres Veiels „Das Himbeerreich“, für das Veiel mit ehemaligen Bankvorständen gesprochen hat. Vorher hatte nun „Fluchtpunkt Berlin“ Premiere, eine „Recherche von Tobias Rausch“ mit Jugendlichen des Jungen DT.

Es geht um Flüchtlingsschicksale. Ein Rechercheteam hat im Vorfeld 40 Interviews geführt. Nicht nur mit Menschen, die aus Krisengebieten wie dem Kosovo nach Deutschland gekommen sind, sondern auch mit solchen, die aus einem dem Kohleabbau geopferten Dorf umgesiedelt wurden oder nach dem Atomunfall in Fukushima nach Berlin kamen. Die jungen Schauspieler erzählen, spielen oder tanzen diese Geschichten in den Überresten eines Hausgerippes nach, überschwänglich und dabei auf charmante Weise von dem Umstand berauscht, über eine großen Bühne wie auf einer verbotenen Baustelle zu tollen. Das ist mal mitreißend und mal von gut gelaunter Bemühtheit.

Man habe versucht, den Begriff „Flüchtling“ weiter zu fassen, „um vom Klischee“ wegzukommen, sagt Tobias Rausch im Programmheft. Diesen Versuch merkt man dem Abend an: gut die Hälfte der Zeit thematisieren die Jugendlichen die Schwierigkeit, bewegende Schicksale zu erzählen, ohne in Kitsch zu verfallen. „Warum bellst du wie ein Hund“, sagt einer der Spieler. „Soll das ,Einsamkeit’ symbolisieren? Das muss man anders machen“. Dann drapiert er die Spieler um, befiehlt ihnen apathisch vor sich hinzustarren und erzählt selbst von dem Vietnamesen, der seine Kindheit in einem deutschen Flüchtlingsheim verbrachte und nun abgeschoben werden soll, als eine andere Spielerin wiederum mit dem Einwand unterbricht, dies sei ja „Einfühlungsschmalz“.

Ein anderes Mal wird ein Flüchtling von selbstverliebt empörten Mitarbeitern eines Flüchtlingsheims vorgeführt: Er solle doch seine Geschichte erzählen. Doch sobald er beginnt, unterbrechen sie ihn, bis er schließlich ausrastet: Jeder wolle seine Geschichte. „Meine Leidensgeschichte ist mein Kapital“. Journalisten böten ihm „fünfzig Euro“ dafür, doch wenn er sie erzähle, würde sie nach den Bedürfnissen des Marktes frisiert.

Fünfzig Euro für eine Geschichte, die dann aber bitte ein paar Trauma-Details aufweisen muss. Auch Recherchetheatermacher sind Journalisten.

Das Wirklichkeitstheater hat nicht nur das Problem der Kitschvermeidung, es muss auch Elendsvoyeurismus umgehen und die Mechanismen einer obszönen Medialisierung durchsichtig machen, ohne dabei in selbstbezügliche Verkrampfung zu geraten. Dokumentarisches Theater, ahnt man da, erfordert nicht weniger, es fordert mehr Fingerspitzengefühl als die klassische Stück-Inszenierung.

Nächste Aufführung am 31. Januar im Deutschen Theater

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