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Sibylle Lewitscharoff: ''Bulgarien, das ist die Selbstzerstörung''

Die in Berlin lebende Autorin Sibylle Lewitscharoff sprach mit dem Tagesspiegel über das Land ihres Vaters und die Hintergründe ihres Romans „Apostoloff“. Eine Abrechnung.

Frau Lewitscharoff, in Ihrem neuen, vielgelobten Roman „Apostoloff“ erzählt eine Frau aus Stuttgart-Degerloch von einer abgründigen Reise nach Bulgarien, ins Land ihrer Vorfahren. Sie leben in Berlin, stammen aus Stuttgart-Degerloch und haben noch Familie in Bulgarien. Ein Zufall?

Natürlich nicht. Ich war seit meiner Kindheit zwar öfter bei Verwandten in Bulgarien. Aber der Anstoß kam von der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart, die sich in Osteuropa stark engagiert und mir ein Stipendium für ein literarisches Bulgarienprojekt bewilligte. Hinzu kam, dass mein Vater als von Bulgarien nach Deutschland emigrierter Arzt seine erste Anstellung in Stuttgart am Robert-Bosch-Krankenhaus bekam. Bosch ist für uns der Name eines Familienheiligen. Das erschien mir als Wink des Schicksals.

Wie nah sind die Verwandten?

Durchaus nah, die Schwester meines Vaters und mehrere Cousinen und Vettern.

Sprechen Sie Bulgarisch?

Kein Wort! Deshalb habe ich „Apostoloff“ einem Vetter gewidmet, der schon lange in Deutschland lebt und mich als Dolmetscher begleitet hat.

Auch wenn Sie durch den Mund einer Erzählerin sprechen, machen Sie aus Ihrem Herzen eine Art offene Mördergrube: Bulgarien, seit 2007 Mitglied der Europäischen Union, ist für Sie ein von Postkommunismus und Mafia völlig verwüstetes Land.

Auf meinen letzten Reisen war ich tatsächlich tief erschrocken über die Verkommenheit und Hässlichkeit. Es geht mir nicht um die offensichtliche Armut. Ich habe schon ärmere Länder gesehen, habe auch lange in Südamerika gelebt, aber nichts hat mich so erschüttert. Bulgarien war ein Land fast ohne Kriegszerstörungen. Nach 1945 hat dann unter der betont stalinistischen Diktatur eine bis heute, unter rohkapitalistischen Vorzeichen anhaltende Verrottung begonnen, die fast alles vernichtet hat, was in Bulgarien an Schönheit einmal da war.

Sie meinen die Architektur?

Damit fängt es an, aber es geht nicht nur um die äußere Hässlichkeit. Die brutal und scheußlich hochgezogenen Zementbauten sind auch innen völlig verwahrlost, alles ist schimmlig, voller Pilzbehänge, stinkend, sanitär katastrophal. Normale Touristen oder EU-Beobachter sehen das kaum, ich habe es überall erlebt. Die meisten Bulgaren, wenn sie nicht zur kleinen Schicht der mafiosen Neureichen und korrupten Parvenüs gehören, leben unter erbarmungswürdigen Bedingungen, die für Westeuropäer unvorstellbar sind. Menschen in solche Bauten einzusperren, zeugt von einer schier unglaublichen Niedertracht.

Das klingt eher nach Rumänien, wo Ceau- sescu als feudaler Fundamentalist sein Volk einst demütigte, es in ungeheizte Wohnblöcke sperrte und alte Dörfer in Kolchosen aus Blech und Beton verwandelte.

Das Gleiche ist in Bulgarien auch geschehen. Nur eben beiläufiger, ohne große ideologische Ankündigung, vom Westen wohl auch unbemerkter. Der jahrzehntelange bulgarische KP-Chef Schiwkoff war ja ein verschlossener Mann. Und Bulgarien war eher ländlich und kleinstädtisch geprägt, von einst bildschönen Städten wie Plovdiv oder Varna am Schwarzen Meer. In Plovdiv kann man Reste der Altstadt noch sehen und kriegt eine Ahnung, was da einmal war: eine Architektur mit kunstvollen Steinornamenten und den reich geschnitzten hölzernen Balkonen – das zeugte von einer Lebenskultur, in der das osmanische Erbe sich mit der christlichen Orthodoxie verbunden hatte. Dies alles ist heute weitgehend verschwunden, bis auf einige wunderbare Klöster, die als Anziehungspunkte für Touristen dienen.

Die Lebensverhältnisse haben sich seit der Wende 1989/90 wirklich kaum geändert?

Wenn man das eine „Wende“ nennen will, dann sind die meisten Wohnungen auch in den Betonblöcken inzwischen Privateigentum. Aber es gibt keine internen Strukturen, keine funktionierende Hausverwaltung, und die einzelnen Bewohner haben nicht die Mittel, irgendwas von Grund auf zu sanieren. Deshalb verfallen selbst Neubauten. Die rostigen Aufzüge fahren nicht, ältere, gebrechliche Menschen, die im siebten Stock wohnen, sind Gefangene, wenn sie niemand rauf- und runterträgt. Die windigen Spanpressplattentüren der Wohnungen sind zugenagelt mit irgendwelchen Wachschutzemblemen, und dahinter zittern die Leute in Furcht und Elend.

So geht es auch Ihren Verwandten?

Natürlich, die gehören bis heute zu keiner Nomenklatura, und denen, die nicht weg in den Westen sind, ergeht es nicht besser. Ich habe dort in den Wohnungen auch Handwerker erlebt, die etwas reparieren sollten. Die können das gar nicht, weil sie nicht mehr wissen, wie. Der Kommunismus in Bulgarien hat auf die längst marode Schwerindustrie gesetzt und den handwerklichen Mittelstand und die schmale Basis des kleinstädtischen Bürgertums weitgehend zerstört.

Sie sprechen als einst rebellische Bürgertochter, die Rosa Luxemburg und Leo Trotzki verehrte.

Das ist lange her und beruhte auf keiner lebensnahen Erfahrung. Aber man sieht jetzt, dass Bulgarien nach dem Kommunismus nur den allerschrecklichsten, primitivsten, von bürgerlichen Tugenden und rechtsstaatlichen Traditionen völlig abgelösten Kapitalismus geerbt hat. Allgegenwärtig sind Pornografie, Prostitution, Obszönität in jeder Variante. Auch die neuen Hotels an der Schwarzmeerküste zeigen den Postkommunismus nur in der hässlichsten, vulgär-kitschigsten, minderwertigsten Weise. Und Sie können die kleine Schicht der Profiteure überall beobachten, weil die sich hinter ihren teuren Sonnenbrillen und den bossigen gepanzerten Autos überhaupt nicht verbergen und voller Unverschämtheit zeigen, dass beispielsweise Verkehrsregeln für sie nicht gelten und sie die Polizei im Zweifel gekauft haben.

Bulgarien galt einmal als Land der sozialistischen Goldküste, der schweren Rotweine und wilden Landschaften.

Gebirge und Natur findet man natürlich, Bulgarien ist ja dünn besiedelt. Aber die Schwarzmeerküste ist ein Albtraum. Trotz aller Probleme, die nach 1989 in der damaligen Tschechoslowakei oder in Ungarn entstanden, es gab in Prag oder Budapest allemal noch einen Rest alter bürgerlicher Kultur. Die gab und gibt es in Bulgarien, auch in Sofia fast gar nicht.

Als ich 1990 mit George Tabori einen Film in Budapest machte, war Tabori erstmals nach der Wende in seine Geburtsstadt zurückgekehrt, und er hat einen Taxifahrer gefragt, wie es denn so sei in der neuen Freiheit. Der ungarische Fahrer antwortete: „Oh, prima. Jetzt haben wir Pornografie und Antisemitismus!“

(Lacht) Das trifft auch in Bulgarien zu. Obwohl die im Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen verbündeten Bulgaren, im Unterschied zu den Ungarn oder Rumänen, ihre jüdischen Mitbürger nicht ausgeliefert haben. Das war ein Ruhmesblatt. Man hat sich auch, nachdem viele rausgeekelt wurden, mit der türkischen Minderheit einigermaßen arrangiert. Aber es gab unlängst im bulgarischen Fernsehen einen rechtsradikalen Politiker, der offen propagierte, dass man Juden und Zigeuner zu Seife machen sollte.

Im Ernst?

Ja, das ist verbürgt.

In Brüssel wird angesichts der Korruption und mangelnden Rechtsstaatlichkeit diskutiert, ob man Bulgarien und Rumänien nicht zu früh in die EU aufgenommen hat.

Es ist sicher eine offene Frage, und ich urteile hier nicht als Politologin oder Journalistin, sondern nur als erschütterte Beobachterin. Ich kann das auch nicht mit allen anderen osteuropäischen Ländern und EU-Kandidaten vom Baltikum bis zur Ukraine vergleichen. Aber selbst im Fall des durch Ceausescu so malträtierten und zum Teil wieder von alten Kadern beherrschten Rumänien gibt es einen Unterschied: Dort existieren noch Spuren des habsburgischen, deutsch-ungarischen Erbes, etwa in Hermannstadt, im alten Siebenbürgen – wo auch aus dem westlichen Ausland investiert wird und man die alten Städte restauriert hat. Eine solche Stadt oder Region, überhaupt eine wiedererwachte Wirtschafts- und Kulturlandschaft habe ich in Bulgarien nirgends gesehen. Auch die orthodoxe Kirche kümmert sich aus Tradition nur um sich selbst, sie kennt keine ausgeprägte soziale Verantwortung.

Sie beklagen den Mangel an Zivilgesellschaft. Hatten Sie auf Ihren Reisen keine Kontakte mit bulgarischen Künstlern und Intellektuellen? Oder sind die wie Christo oder der in Berlin inszenierende Regisseur Dimiter Gotscheff alle im Ausland?

Es gibt natürlich auch in Bulgarien Menschen, die gegen die Misere kämpfen, einzelne mutige, unkorrumpierte Politiker oder engagierte Juristen. Auch Künstler. Aber ihnen fehlt die Basis. Im Übrigen habe ich Intellektuelle oder Schriftsteller auf meinen Reisen nicht gezielt gesucht. Mir reichte schon meine Familie!

Sibylle Lewitscharoff stellt „Apostoloff“ am Donnerstag, den 26. 2. im Literarischen Colloquium in Berlin-Wannsee vor. Das Gespräch führte Peter von Becker.

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