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Westdeutschland in den Siebzigern.

© dpa

Siebziger Jahre: Prilblumenblues

In seinem Roman "Roxy" erzählt Dietmar Sous von einer westdeutschen Jugend.

Die frühen siebziger Jahre gelten als coole Phase der alten Bundesrepublik. Es waren die Jahre von Willy Brandt als Bundeskanzler. Von Deutschland als Fußballweltmeister. Von Disco, Prilblumen, Miniröcken und Maxijoints. Kurz: Man konnte als junger Mensch jede Menge Spaß haben.

Doch genau damit tut sich Paul Weber, der Icherzähler in Dietmar Sous’ Roman „Roxy“ schwer. Zwar träumt auch er, mit Spitznamen Roxy, von Aufbruch und Freiheit. Nicht von ungefähr läuft er gern wie sein Idol Bryan Ferry in Jackett, engen Jeans und mit Sonnenbrille herum. Ansonsten aber hat Pauls Alltag als Sohn einer alleinerziehenden Mutter in der rheinischen Provinz bei Aachen nur wenig Glamouröses an sich.

Wegen einer Leseschwäche hat er es nicht aufs Gymnasium geschafft, sondern macht eine Lehre im Garten- und Straßenbau. Mit seiner Verehrung für Brandt und Glamrock eckt der Möchtegern-Bohemien inmitten hartgesottener Proletarier schnell an. Als er sich zu allem Überfluss auch noch in die Oberschichtszicke Sonja verliebt und seinen schriftlichen Einberufungsbefehl nicht richtig entziffern kann, nimmt das Unglück seinen Lauf. Als Wehrdienstverweigerer wider Willen gerät Paul ins Visier von Polizei und Justiz.

Eine Siebziger-Jahre-Jugend als Hiob-Geschichte

Kritiker haben Dietmar Sous, Jahrgang 1954, mit dem britischen Autor Nick Hornby verglichen, weil auch bei ihm Popmusik oft als Referenz für ein generationsspezifisches Lebensgefühl dient. Dennoch hinkt der Vergleich, weil Sous trotz seines heiter-lakonischen Sounds sehr viel bösere Pechvogel-Geschichten erzählt. Das trifft nun auch auf seinen autobiografisch grundierten Schelmenroman „Roxy“ zu. Als „Fahnenflüchtiger“ wird der arme Paul schon bald nicht nur von der Polizei gejagt und von seinen Lehrherren drangsaliert („Bist du Student? Schwul? Hast du deine Tage? Oder alles zusammen?“), sondern auch von seiner Mutter und seiner Liebe Sonja im Stich gelassen. Ja, selbst die Genossen von der SDAJ beäugen ihn skeptisch: als potenziellen Spitzel.

Von wegen Love, Peace & Happiness: „Roxy“ schildert eine Siebziger-Jahre-Jugend als Hiob-Geschichte, in der es für Paul fast durchweg immer noch ein bisschen schlimmer kommt. Doch glücklicherweise versteht es Sous, der zuvor neben vier Romanen auch neun Kurzgeschichtenbände veröffentlicht hat, das Tragische ins Lapidar-Groteske zu wenden. Er erzählt Pauls Werdegang von Mai 1973 bis Januar 1975 als Folge hart geschnittener, mitunter achronologisch montierter Episoden, in kurzen Sätzen und pointierten Dialogen.

Bloß nicht sentimental werden: Für dieses Schreibmotto ist Sous bekannt. In „Roxy“ hätte es stellenweise zwar ruhig ein bisschen mehr Mut zum melancholischen Gefühl sein dürfen. Doch wahrscheinlich hielt Sous auch deshalb an seinem humorigen Understatement-Credo fest, weil die Ähnlichkeit zwischen ihm, dem ehemaligen Glasfabrikarbeiter und Wehrdienst-Verweigerer, und seinem Helden Paul unübersehbar ist. Man ahnt: Dietmar Sous weiß aus eigener Erfahrung nur allzu gut, wie hart es ist, als Flausenkopf unter engstirnigen Provinzlern aufwachsen zu müssen.

Dietmar Sous: Roxy. Roman. Transit Verlag, Berlin 2015. 144 Seiten, 16,80 €.

Gisa Funck

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