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Allez hopp. Dirigent Giancarlo Guerrero

© MUTESOUVENIR | KAI BIENERT

Silvesterkonzerte: Über Sternen, unter Sternen

Beethovens Neunte unter Janowski und Barenboim - und das DSO mit dem Circus Roncalli.

Heftig applaudierend feiert das Rundfunk-Sinfonieorchester seinen Chefdirigenten, eine Demonstration der Zuneigung für Marek Janowski. Dass die Musiker ihm das Amt „auf Lebenszeit“ angetragen haben, vereint sie mit der Staatskapelle, die ihren Daniel Barenboim gleichfalls so lange wie möglich behalten möchte. Beide Dirigenten binden sich an die Tradition, zum Jahreswechsel die Neunte von Beethoven zu spielen. Und wir spüren als Zuhörer, dass es gut ist. „Über Sternen muss er wohnen“ – keine Sehnsucht, keine Hoffnung ist stärker.

Die Sehnsucht der Menschen aber nach diesem Silvesterstück bedeutet Vertrauen in die Musik, weil sie offenbar Geister vertreiben und Träume erfüllen kann. Ihre Utopie steht mit der des „Fidelio“ in Verbindung, der gespielt wird, wo auf real existierende Unfreiheit zu reagieren ist. Beethoven hält die Spitze unter den Lieblingskomponisten des Klassikpublikums. Immer wieder die Neunte, Gegenüberstellung von Tragik und ewiger Freude, sie ist ohne ein Moment äußerster Anstrengung nicht realisierbar, seit am Anfang der Rezeptionsgeschichte der taube Komponist 1824 in Wien die Uraufführung selbst „dirigiert“ und zugleich in ihrer Sonderstellung autorisiert hat.

„So ist sie doch ein schlechtes Gedicht“, stellt Schiller später über seine „Freude“ fest. Es ist ein in feucht-fröhlicher Runde entworfenes Gelegenheitsstück, während die Sinfonie, die daraus geworden ist, von Richard Wagner „das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft“ genannt wird. Wer die Neunte liebt, muss mit viel Zwiespalt rechnen, auch was manch seltsame stilistische Un- bekümmertheit der Partitur betrifft.

Im Konzerthaus dominieren beim RSB ruhig liegend die leeren Quinten des Beginns, nichts wird heraufbeschworen aus mystischem Dämmern, sondern in richtigen Tempi flexibel musiziert. Wie die Musik atmet im Scherzo, gewinnt sie im Dur-Trio etwas Drängendes. Feinzeichnend die unendliche Melodie der beiden Themen im langsamen Satz, steuert Janowski mit wuchtigem Rezitativ seiner ausgezeichneten tiefen Streicher ins Finale, darin das Solistenquartett aus Ricarda Merbeth, Anke Vondung, Michael König und Johan Reuter mit dem höhenglänzenden Rundfunkchor Berlin.

Hegt Janowski besonders den organischen Fluss der Musik, so sucht Barenboim mehr denn je nach dem, was zwischen den Noten steht. Wenn er sich in sein Ideal von großem Adagio versenkt, scheint die Welt stillzustehen.

Barenboim will das Außerordentliche, schlechthin Überbietende, und er findet Momente des Unerhörten. Dann führt er die Staatskapelle, dieses Wunderinstrument, in philosophisch sogenannte Hintergrundschichten der Musik. Und steht selbst horchend mit Staunen. Die Interpretation, wie sie diesmal im Schiller-Theater gefeiert wird, scheut kein Pathos. Es gibt diese Beschwörungen des Instrumentalkolorits im Pianissimo des Beginns, mehr noch beim Hauch des Freudenthemas mit betonten Binnencrescendi, dabei Kontraste, die dem Theatralischen zuneigen. Das gilt naturgemäß auch für den Staatsopernchor, der agierend auf der Bühne zu Hause ist, anders als der Rundfunkchor. Bei Barenboims Orchester kommen dazu kammermusikalische Schönheiten, in denen das Fagott dominiert. In seinem Solistenquartett (mit Anna Samuil, Anna Lapkovskaja und Johan Botha) bezaubert die Wortgestaltung René Papes.

„Alle Menschen werden Brüder“: Hat das Publikum die Neunte mit der Gloriole des Einmaligen geschmückt, so zeigen die beiden Aufführungen deren Interpretationsbreite. Sybill Mahlke

Der Roncalli-Weihnachtscircus

Sie sind jung, sie sind sexy, sie suchen das Risiko. Wilde Tiere gibt es im Roncalli Weihnachtscircus nicht, dafür erlebt man schwerelose Menschen wie die Los Nablos, die im großen Hamsterrad durch die Manege segeln, ohne Netz. Und die Cedeno Brothers, sie wirbeln um- und übereinander, als wären sie Bälle oder Kegel. Ein wunderbares Programm, man kann sich lange und gut unterhalten, wer schöner, anmutiger, eleganter ist: die Hula-Hoop-Künstlerin Geraldine Philadelphia, die Seil-Fliegerinnen Katharina & Natalia, die Rollschuh-Raser von Les Paul, die Akrobatin Clio Togni mit ihrem Meeresnixen-Bassin. Ihre Spezialdisziplin ist der Handstand; langes Haar, lange Beine und eine Kraft in den Armen, die den Model-Körper in die Höhe drücken, als würde er von einer unsichtbaren Kraft gezogen.

Seit Jahren bestreitet das DSO im Tempodrom mit Zirkusartisten seine Silvesterkonzerte. So sensibel aber haben die Welten noch nie miteinander harmoniert. Das Orchester und sein Gastdirigent Giancarlo Guerrero aus Costa Rica, der in der Country-Metropole Nashville das Symphony Orchestra leitet, spielten wie eine große Zirkuskapelle auf; und Guerrero hat ein witziges Entrée als Clown mit Staubsauger. Was wiederum die Artisten inspirierte, auf die Musiker ein- und zuzugehen. Es fiel nicht schwer, bei dieser populären Latino-Musikauswahl. Gershwins „Cuban Ouverture“, Chabriers Orchesterrhapsodie „Espana“, Rimsky-Korsakows „Capriccio espagnol“, ein „Mambo“ von Bernstein, Stücke von Manuel de Falla natürlich und Bizets Torero-Marsch aus der „Carmen“: Ist nicht auch die Oper ein Zirkus, wenngleich immer mit tragischem Ausgang? Nicht hier. Musiker und Zirkuskünstler strahlen zum Jahreswechsel einen angenehmen Optimismus aus. Zirkus kann so alt aussehen, hier ist er frisch, vibrierend. Klassik und Show, das kann so angestrengt daherkommen, hier wirkt es animierend.

Bei so vielen herausragenden Einzelleistungen fällt er fast nicht auf: Xavier de Maistre, der Solist an der Harfe. Er sitzt bescheiden am Rand der Manege. Die Hände fliegen leicht und kraftvoll über die Saiten seines mächtigen Instruments. Allegri aus Harfenkonzerten von Adrien Boidelieu und Reinhold Glière. Auch das artistische Kunststücke, schmissig, wie man so sagt, knallig. Guerrero treibt das Orchester wie ein Fußballtrainer an der Seitenlinie an.

Die Rollen sind einmal anders verteilt – die stille, poetische Nummer kommt von der Zirkusseite, mit dem Schweizer Komiker, Tüftler, Magier Claude Criblez und seinen Flugapparaten. Er hat eine „Wuschmaschine“ aufgebaut, sie bläst Rauchringe in den Manegenhimmel, und ein fliegender Fisch taucht hindurch. Wusch! Und Tusch! Rüdiger Schaper

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