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Singen

© Big cheese/vario

Singen: Jubiloooooo!

Manche tun es leise, andere nie, die meisten nur einmal im Jahr: Kleine Typologie für Weihnachtssänger.

DER MITSINGER

Ohne Sie ginge das große Umarmungsgefühl im Auftritt selbstverliebter Solisten verloren. Sie heulen zwar, nach Ansicht von Lästermäulern, mit den Wölfen; Ihnen gibt man die Schuld am Schleppen und Verschleifen von Tönen, Tempi und Silben. Doch das ewige Wetthumpeln zwischen voranpreschender Orgel und verzögerter Volkesstimme entscheiden siegreich Sie, alle Jahre wieder. Sie setzen das demokratische Ritardando durch. Sie repräsentieren die Majorität, unter deren Schutz Geborgenheit gedeiht. Der Gesangbuchsatz „Ich singe mit, wenn alles singt“ formuliert Ihr Credo des unbedingten Einklangs.

DER LAUTSINGER

Unüberhörbare Resonanz verleiht Ihnen Mut. Was Mäkler als Grölen bezeichnen, ist für Sie die körperliche Performance spiritueller Stärke. Dahinter treten Ihre Inhalte zurück. „O du schöner Westerwald – Eukalyptusbonbon – Maria und Josef, die hatten in Jerusalem ein Buttermilchgeschäft – In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn“: Für Lautsinger sind solche populären Potpourris, die im Gottesdienst viel zu selten eingesetzt werden, wie geschaffen. Wer Angst hat, an die Wand gesungen zu werden, ist noch nicht im Recht. Als Lautsinger zeigen Sie der Welt, dass echte Überzeugung die Scheiben klirren lässt.

DER KUNSTSINGER

Als ambitionierter Chorist, Profikünstler oder hochpotenter Kehlkopf von der letzten Bank glauben Sie daran, dass Musik die Sprache der Menschheit ist. Genießen Sie Ihre Chormessen, Oratorien, Kantaten! Sie sind das Volk. Lassen Sie sich weder von dissonanten Banausen aufhalten noch vom pastoralen Purismus eines Dietrich Bonhoeffer. Der meinte im polyphonen Gemeindegesang „Kälte“, „Eitelkeit“, „trübes dunkles Verlangen“ auszumachen: Die improvisierte zweite Stimme wolle wohl der Einstimmigkeit „die vermißte Fülle geben und tötet dabei Wort und Ton“. Prophetenstrenge sollte die Ästhetik nicht verderben. Was schön ist, setzt sich durch.

DER LEISESINGER

Wer sieht, wie Sie fast lautlos die Lippen bewegen, wer die Ohren spitzt und Ihr Flüstern erhascht, versteht: Urbi et orbi trauen Sie sich nicht. Ihr Bekenntnis legen Sie auf die Goldwaage. Sie verweigern der Öffentlichkeit den Beitrag Ihrer Stimmbänder. Sie nuscheln ohne Ohrenzeugen – und demonstrieren, wie ernst Sie sich nehmen. Wo Wiegenlieder sich in Liebeslyrik verwandeln, fühlen Sie sich hingezogen. Wenn J. S. Bach fürs Weihnachtsoratorium das zarte Gedicht „Ich steh an deiner Krippen hier“ mit einer Allerweltsweise unterlegt, statt seine wunderbare Eigenkomposition einzusetzen, unterstellen Sie ihm prompt: die rührende Bescheidenheit eines Leisesingers! Ob Sie nun ein koketter Sünder sind oder Narziss im Schneckenhaus, aus Ihrer Seele finden Ihre Lieder nicht heraus. Hoffentlich merken Sie, wenn ein Engel durchs Zimmer geht.

DER SINGEN-LASSER

Sie können, wollen, dürfen nicht singen. Sie propfen Stöpsel ins Ohr, erleben das Familienfestchaos hinterm Schleier verzauberter Beats. Sie werfen CD-Wechsler an, lassen Perlen der Klassik das lange Abendritual beschallen. Sie holen per Fernseher X-mas-Hitparaden in die Single-Bu de. Sie legen für den Lichterbaum Event das akustische i-Tüpfelchen auf, Konserve statt Livegesang. Wer singen lässt, hat die Hoffnung auf die anderen noch nicht aufgegeben.

DER FALSCHSINGER

Falls Sie Gangster sind, verbietet Ihre Berufsehre Ihnen zu singen. Als bürgerlicher Falschsinger wissen Sie: Es kann auch richtige Töne in der falschen Tonart geben. Falschsingen kommt in den besten Berliner Familien vor. Als Weihnachten 1829 im Haus Mendelssohn Bartholdy ein vom Komponisten Felix frisch gefertigtes Singspiel uraufgeführt wur de, verfehlte der unmusikalische Schwager Wilhelm Hensel selbst den simplen Dauerton, der ihm auf den Leib geschrieben worden war. Sie als Falschsinger verkörpern den „eschatologischen Vorbehalt“: der nach Theologenansicht signalisieren soll, dass trotz aller Fortschritte ein letztes Quantum Vollendung reserviert bleibt fürs ewige Leben. Gott dirigiert göttlich, wir singen schief. Solch ein Gefälle findet sich auch in den lakonischen Zeilen des Hamburgers Johann Rist, der zur Zeit des Deißigjährigen Krieges für seinen Choral „Ermuntre dich, mein schwacher Geist“ dichtete: „Du dummes Vieh, was blökest du, bei deines Herren Mutter? Immanuel hält seine Ruh allhier bei gutem Futter.“ Harmonie von Form und Inhalt bleibt auf Erden: Utopie.

DER NICHTSINGER

Jean-Jacques Rousseau und Charles Darwin haben vermutet, Sprache sei ursprünglich aus dem Singen entstanden. „Tote werden dich, Herr, nicht loben, noch die hinunterfahren in die Stille“, predigt der 115. Psalm. Sie, verehrter Nichtsinger, sind vielleicht der steinerne Gast in unserer Mitte. Allerdings weder ganz stumm noch ganz tot ... Ein potenzieller Klangkörper, der einst gesungen hat. Oder eines Tages singen wird. Nichtsinger ist keine Berufung.

DER AUSWENDIG-SINGER

Sie gelten als wandelndes Gesangbuch. Verse, die Ihr Leben begleitet haben, wurden von Ihnen internalisiert; als Speicherplatz dafür vorhanden war. Heute reagieren Sie manchmal nervös: wann immer aus unvorteilhaft gekürzten Gesangbuchversionen ein paar modisch frisierte Strophen alter Lieder rausgepickt werden. In Ihrem Langzeitgedächtnis überwintert das Original. Ihr Original! Eine Fülle unsingbarer, naja altmodischer, blumig kraftvoller, inbrünstiger Verse, die vorzeiten rauf- und runtergeschmettert wurden – und einst, mit Ihnen, im Orkus des Vergessens zu versinken drohen. Aber noch erinnern Sie sich, ohne Ansehen der Qualität. Wie ein Archiv. Wenn Sie singen, singt es in Ihnen.

DER ABSINGER

Sie gelten – „unter Absingen schmutziger Lieder“ – als leiernde Gebetsmühle. Als Verkörperung der Kaufhaus- und Fahrstuhlmusik. Während das „neue Lied“ in der Bibel als Inbegriff ehrlichen Jubels gelobt wird, spulen Sie routiniert Ohrwürmer ab. Katholische Dogmatiker haben einst, zum Ärger des modernen Individuums, die Formel „ex opere operato“ erfunden, was heißen soll: Im telepathischen Heilskollektiv Kirche geschehe bereits durch objektiv vollzogene Handlungen etwas übernatürlich Gutes, egal wie schäbig mitunter die Akteure agieren. Gemeint ist damit die Kraft der Sakramente. Allerdings hat bislang kein Pontifex ex cathedra verkündet, dass abgesungenes Liedgut objektiv Segen spendet. Aber wenn Maschinenmenschen „In dulci jubilo“ knattern, kann die Welt, vielleicht, gerettet werden.

DER TROTZDEM-SINGER

Sind Sie sicher, dass Ihr wahres Lied im falschen Leben reelle Chancen hat? Ihr Vorbild ist der Gesang der Jünglinge im Feuerofen: eine orientalische Erzählung von Vernichtung und Auferstehung, im 20. Jahrhundert vertont durch Karl-Heinz Stockhausen. Unterm Tannenbaum nicht ohne Risiko zu singen. Sind überhaupt, nach Stockhausens Feuerofen Jahrhundert, in der ziemlich entflammbaren Welt von heute, noch schöne Lieder erlaubt? Als Trotzdem-Singer akzeptieren Sie die Schmach, verlogen zu wirken; wie jene gegnerischen Frontsoldaten des Ersten Weltkriegs, die Heiligabend miteinander „Stille Nacht“ anstimmten. Ein Trost für Sie: Wenn es ums Singen in böser Zeit geht, finden sich – wie im Liebesleben langjähriger Partner – jederzeit zahlreiche korrekte Gründe, es nicht zu tun.

„Heut schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis …“ Dieser Augenblick war nur für Sie bestimmt SIEHE: KAFKA]. Es gibt einen Moment, trotzdem zu singen. Jetzt.

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