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Kultur: Singen vaterländischerLieder Bernd Sösemanns Analyse der Nazipropaganda

In diesen beiden kiloschweren Bänden offenbart sich die Quintessenz eines Forscherlebens: Bernd Sösemann hat mit einer sorgfältig edierten Quellensammlung zur nationalsozialistischen Propaganda einmal mehr nachgewiesen, dass akribisches Aktenstudium und deren sorgfältige Edition auch im Internetzeitalter unverzichtbare Voraussetzungen dafür sind, Vergangenes rekonstruieren und einordnen zu können. Mitunter führt dies auch zu einer Neubewertung: Als junger Forscher las Sösemann im Bundesarchiv die Tagebücher von Kurt Riezler, dem Sekretär von Reichskanzler Bethmann-Hollweg, und konnte nachweisen, dass Karl Dietrich Erdmann, der maßgebliche Historiker für die Kriegsschuldfrage, die Tagebücher verfälscht hatte.

In diesen beiden kiloschweren Bänden offenbart sich die Quintessenz eines Forscherlebens: Bernd Sösemann hat mit einer sorgfältig edierten Quellensammlung zur nationalsozialistischen Propaganda einmal mehr nachgewiesen, dass akribisches Aktenstudium und deren sorgfältige Edition auch im Internetzeitalter unverzichtbare Voraussetzungen dafür sind, Vergangenes rekonstruieren und einordnen zu können. Mitunter führt dies auch zu einer Neubewertung: Als junger Forscher las Sösemann im Bundesarchiv die Tagebücher von Kurt Riezler, dem Sekretär von Reichskanzler Bethmann-Hollweg, und konnte nachweisen, dass Karl Dietrich Erdmann, der maßgebliche Historiker für die Kriegsschuldfrage, die Tagebücher verfälscht hatte. Sösemann löste mit seinen Recherchen eine neue Debatte zur deutschen Kriegsschuld im Ersten Weltkrieg aus.

Nun hat der emeritierte Professor für Geschichte und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität die bisher vollständigste Dokumentenauswahl zu nationalsozialistischer Propaganda ediert und leistet damit einen wesentlichen Beitrag dazu, allzu simple Annahmen zu widerlegen. Denn eines wird beim Durchsehen der über 1600 Seiten deutlich: Die nationalsozialistische Propaganda war kein perfekt durchdachtes, alles durchdringendes System, sondern eine reichlich improvisierte Veranstaltung, die auch so mächtige Männer wie Joseph Goebbels zu widersprüchlichen Vorgaben, Kurswechseln und taktischen Anpassungen zwang. In Sösemanns akribischer Dokumentenedition finden sich alle Schlüsseldokumente der nationalsozialistischen Propaganda von den einschlägigen „Mein Kampf“-Zitaten über das Schriftleitergesetz bis zu den Nürnberger Rassegesetzen, aber eben auch fürchterlich Banales wie eine Verordnung zum „Singen vaterländischer Lieder mit religiösem Text“ oder eine Presseanweisung zur korrekten Bezeichnung des 1. Mai: „Die einzig richtige Bezeichnung für den 1. Mai heißt Nationaler Feiertag des deutschen Volkes.“

Wer sich die Zeit nimmt, lernt vor allem viel über die zahlreichen Lücken und Pannen in Hitlers Staat: So war das Reichsinnenministerium 1933 nicht in der Lage, die Geburtstage und -orte prominenter Schriftsteller wie Heinrich Mann und Lion Feuchtwanger, die man ausbürgern wollte, zu ermitteln. Und doch macht einen diese ungeheure Dokumentensammlung schaudern angesichts des aus den Akten entstehenden Bildes eines totalitären Regimes, das alle Lebensbereiche durchdringen wollte, und deswegen ungeheure bürokratische Anstrengungen noch auf die Regelung der kleinsten Lebensbereiche verwandte.

Bernd Sösemann (mit Marius Lange): Propaganda. Medien und Öffentlichkeit in der NS-Diktatur.

Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2011. 1638 Seiten, 196 Euro.

Thymian Bussemer

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