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Sir Roger Norrington.

© Manfred Esser

Sir Roger Norrington beim DSO: Tränen und Eis

Der 80-jährige Sir Roger Norrington fasziniert einmal mehr als ungebrochen neugieriger Klangforscher: Beim Deutschen Symphonie-Orchester dirigiert er Werke von Schubert, Britten und Vaughn Williams

Reich beschenkt verlassen die Gäste des Deutschen Symphonie-Orchesters am Donnerstag die Philharmonie. Es ist Sir Roger Norrington, dem sie diese Fülle faszinierender Höreindrücke verdanken. Der Maestro aus Oxford ist jetzt 80 Jahre alt, er setzt seine Schritte bedächtig, wenn er das Podium betritt, und dirigiert im Sitzen. Doch seine Lust, Musiker wie Besucher im Konzert zu fordern und zu fördern, ist ungebrochen.

Schon bevor er zwei hierzulande kaum bekannte Werke aus seiner Heimat vorstellt, überrascht er mit einer frei schwebenden Interpretation von Schuberts „Unvollendeter“. Ganz ohne dunkel-romantisches Raunen kommt er dabei aus, er entdeckt in der h-Moll-Sinfonie mehr Bezüge, die zurück auf Mozarts „Zauberflöten“-Welt verweisen als voraus zu Webers „Freischütz“. Nicht allein das vibratolose Spiel, das er sich vom Orchester wünscht, zeugt dabei von intensiver Beschäftigung mit der Alten Musik, sondern auch die Art, viele rhetorische Wendungen aus der Tradition der barocken Rhetorik abzuleiten. Und das DSO vermag diesen exzentrischen Ansatz in betörend schöne Klänge umzusetzen, zart und schwebend, durchscheinend und dennoch farbenreich.

Sir Roger dreht den Energiepegel noch einmal bis zum Anschlag

Benjamin Brittens „Lachrymae“, einer Meditation über ein Lied von John Dowland, stellt er das Original von 1604 voran, gesungen vom jungen Tenor Adam Berman. So wird Brittens Kompositionstechnik ohrenfällig: Als hätten sich alle Katastrophen des 20. Jahrhunderts auf dem noblen Lovesong abgelagert, müssen erst Schicht um Schicht abgetragen werden, bis sich der neblige Tonsatz lichtet und die Renaissance-Melodie wieder zutage tritt. Annemarie Moorcroft, seit 1996 Stimmführerin der Bratschen beim DSO, gestaltet den Solopart konsequent als inneren Monolog, feinfühlig begleitet von ihren Streicherkollegen.

Mit Ralph Vaughn Williams 4. Sinfonie fremdelt das Orchester zunächst. Der Maschinensound des Beginns könnte scharfkantiger, entschlossener sein. Deutlich näher liegt den Musikern die fahle Wintersonnen-Atmosphäre des Andante mit seinen weiten, vereisten Klangflächen, denen die Musiker raffinierte Grauschattierungen ablauschen.

Für die Schlusssätze mit ihrer grotesk überzeichneten Fröhlichkeit à la Schostakowitsch dreht Sir Roger den Energiepegel noch einmal bis zum Anschlag hoch – und strahlt beim Schlussapplaus wie ein Schuljunge, weil seine Repertoire-Rarität vom ausverkauften Saal so begeistert beklatscht wird.

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