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Kultur: Sitzt, zappelt, holt Luft

Henry Hübchen zum 60. Geburtstag

Henry Hübchen ist faul, geizig und gefräßig. Das hat Frank Castorf gesagt, als die Zeitschrift „Theater heute“ Hübchen 1994 zum „Schauspieler des Jahres“ gewählt hatte und Castorf die Preisrede hielt. Eben jener Intendant, den Hübchen nur als „nichtstuenden, immer fröstelnden, spitznasigen, an der aufgedrehten Gasheizung sitzenden Brillenträger“ kennt.

Natürlich hat Castorf recht. In der ersten Rolle, in der Hübchen dem gesamtdeutschen Publikum wirklich auffiel, saß er eigentlich nur vorm Fernseher. Das war 1999 in Leander Haußmanns „Sonnenallee“. Nicht viele können mit soviel Nachdruck und Charakter irgendwo rumsitzen wie Henry Hübchen. Sitzen ist Freiheit. Wer wie er aus einer „Dynastie von Tagelöhnern“ (Hübchen) kommt, weiß das. Auch war es in der DDR gut, notfalls einfach sitzenzubleiben. Darum hat Hübchen so eine tiefe Angst davor, dass jemand an seine Kate klopfen könnte: „Hübchen! Rauskommen! Kartoffelernte!“ (Hübchen über Hübchen).

Irgendwann nach 2000 stand Dani Levy da und hatte das Drehbuch von „Alles auf Zucker!“ unterm Arm. Nicht, dass Hübchen da sofort aufgestanden wäre. Im Gegenteil. In solchen Situationen legt sich der Großkritiker neudeutscher Drehbücher immer erst einmal hin. Und wenn er dann beim Lesen nicht einschläft, weiß er, dass es lohnt, sich wieder zu setzen. Jackie Zucker ist jener abgewrackte Ex-DDR-Sportreporter, mit dem Hübchen zum gesamtdeutschen Ereignis wurde und über den die Leute in der Film-Nachbarschaft sagen: „Hat nur Pech gehabt seit der Wende und jetzt soll er auch noch Jude sein!“ Nun gut, Hübchen selbst war nicht Sportreporter, aber dafür zweimaliger Surf-DDR-Meister. Und überhaupt war es deutlich genug erkennbar – dieser Jackie war er selbst. Das Bekenntnis stimmte: Das Leben ist ein Match. Der Typus stimmte auch: der Verlierer als Gewinner. Also einer, der selten aufsteht, aber wenn, dann muss man aufpassen. Man kann den typisch Hübchen-Bewegungsablauf noch präzisieren: Es ist das Sitzsurfen. Manche nennen das auch Slapstick.

Ein Sitzsurfer ist naturgemäß kein Kämpfer. Man erkannte das schon in Castorfs Sartre-Inszenierung „Schmutzige Hände“ Ende der Neunziger. Hübchen als Ex-Revolutionär, der nun Krimineller, Pensionär, Ostler oder Demenzkranker wird. Alles Identitäten, die im Revolutionär schon angelegt waren. Für Volksbühnen-Rollen wie diese ist Hübchen „Schauspieler des Jahres“ geworden. An der Volksbühne ist er seit über dreißig Jahren. Anfang der Achtziger, Benno Besson und die Regisseure Karge und Langhoff waren weg, hatte er keine Lust mehr. Also ging er surfen, machte ein bisschen was fürs Fernsehen oder saß in Gabriele Gysis Küche in Pankow rum. Dort begegnete Frank Castorf dem „arbeitsscheuen Fernsehschauspieler“ Hübchen zum ersten Mal. Für die Castorf-Inszenierung „Nora 85“ in Anklam, drei mal gespielt, sagte dieser die DDR-Fernsehserie „Zur See“, das ostdeutsche „Traumschiff“, ab.

Nach der Wende wurde Hübchen im Fernsehen erst einmal Surfer mit Hawaii-Erfahrung („Hart vorm Wind“), später auch Küsten-Kommissar Tobias Törner („Polizeiruf“). Und eben Haupt-Volksbühnenschauspieler und Akrobat, nicht nur im Sitzen. Natürlich lobt Hübchen seinen Intendanten auch manchmal, etwa als Castorf in „Die Sache Danton“ höchstselbst die Rolle seines verletzten Hauptdarstellers übernahm: „Ausnahmsweise hat sich der Feigling mal hinter seinem Regiepult hervorgetraut.“

Heute wird Henry Hübchen sechzig Jahre alt. Allerdings surft er nicht mehr, und man sieht ihn an der Volksbühne seltener: „Ich habe ein Segelboot. Da kann ich besser sitzen.“

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