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Kultur: Skalp Fiction

Krieg und Terror auf der Bühne: Wie Münchens Kammerspiele Heiner Müller und seinen „Titus“ wiederentdecken

„Der Menschheit/Die Adern aufgeschlagen wie ein Buch/Im Blutstrom blättern.“ – Man hat ihn aus den Ohren verloren, den Heiner-Müller-Sound. Jenes apokalyptische Revolutions- und Weltkriegspathos, das einst über die Berliner Mauer wehte wie ein kalter Ostwind. Ein Phänomen: Müllers Werke scheinen seit seinem Tod vor bald acht Jahren jäh verschwunden. Die Theater spielen ihn nicht mehr, und die Frage, was von diesem sanften, wilden Denker und Dramatiker bleibt, führt zu seinem Überstiefvater Brecht – vielleicht von Müller auch nur die Gedichte. Und Stücke wie „Hamletmaschine“ und „Der Auftrag“, in denen der endgültige Utopieverlust Thema ist. In denen sich ein writer’s block manifestiert, eine profunde Irritation und Ekel vor dem eigenen Metier. Inzwischen hat der Morbus Müller längst auch Schauspieler, Regisseure, Intendanten und die jüngeren Autoren erfasst. Müllers Metzeleien, Zoten, Kalauer, Visionen : Einst gaben sie dem Theater ein Selbstbewusstsein, von dem man heute nur noch träumen kann.

Der große Münchner Müller-Versuch stellt deshalb einen Einschnitt dar. Es ist wohl das erste Mal seit bald einem Jahrzehnt, dass sich eine bedeutende deutschsprachige Bühne wieder Heiner Müller annähert. Johan Simons, Kopf und Regisseur der international gefeierten Experimentiertruppe Hollandia (Ende des Monats gastieren sie im Berliner Hebbel am Ufer mit dem „Fall der Götter“), stemmt in den Kammerspielen „Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar.“ Ein Monstrum: Müllers Vorlage war der „Titus Andronicus“, Shakespeares blutrünstigstes Stück, in dem die römischen und gotischen Köpfe fliegen wie in einem Tarantino-Film. Skalp-Fiction: Das römische Imperium geht zur Neige, die Völker des Nordens und des Ostens bestürmen die ewige Stadt, Kannibalismus ist das Gebot der Stunde. Müller hatte die Blutsuppe nochmal durch das Sieb geschlagen und angewürzt. Die Uraufführung war 1985 in Bochum (Regie: Manfred Karge, Matthias Langhoff), 1987 besorgte Wolfgang Engel die Erstaufführung für die DDR, in Dresden.

Ein Problem des heutigen Theaters besteht darin, dass man die Theatergeschichte kennen sollte, um zu begreifen, was jetzt auf der Bühne vor sich geht. Das trifft oft auf Castorf oder Thalheimer zu – und auch hier. Johan Simons und seine Schauspieler setzen sich mit dem Rücken zum Text. Und das gilt im übertragenen wie im wörtlichen Sinn: Sie entziehen sich dem Katarakt der Gräueltaten und Bestialitäten. Es fließt kein Tropfen Blut. Flüsternd tasten sich sie an das Ungeheuerliche heran, machen hilflos-dämliche Miene zum bösen Mörderspiel, scheinen überfordert von dieser sadistischen Orgie; eine zutiefst menschliche, wenn auch nicht unbedingt theatralische Haltung.

Bert Neumann, der Raum-Bildner der Berliner Volksbühne, hat den Set für die Münchner Kammerspiele so entworfen, dass Ensemble und Publikum einander gegenübersitzen; ratlos!? Fünf Parkettreihen auf der Bühne: Da hocken die Schauspieler, nicht anders gekleidet als die Zuschauer (Kostüme: Nina von Mechow), und sprechen über ein Stück, das sie nicht wirklich spielen. Blindes Tasten nach einem Klassiker. Soundsoviel Personen suchen einen Autor, der alte Pirandello-Spruch passt hier wie die Faust aufs Auge. Sprechprobe, Stimmentheater: Angeführt von einem paralysiert wirkenden André Jung (Titus Andronicus), einem hamletreifen Träumer, horchen die wie mit unsichtbaren Strippen gefesselten Akteure in sich und in Müllers bombastisch-ironischen Text hinein. Wunderbare Schauspieler wie Nina Kunzendorf (Lavinia, die geschundene Titus-Tochter), Hans Kremer (Aaaron, das schwarze Ungetüm, hier weiß), Marion Breckwoldt (Tamora, die Gotenfürstin) und Wolfgang Pregler, der das irre Geschehen wie ein Bibelvorleser vorträgt. Sie alle sind: gehemmt, geschockt. Und hinten, auf zwei großen Leinwänden, sieht man, was die Kameras von der Maximilianstraße an einem Samstagabend übertragen. Paare, Passanten, und dann und wann eine Straßenbahn. Der Frieden täuscht . . .

Simons führt anämisches Konzepttheater vor. Die Sprengsätze bleiben im Programmheft stecken: Da wird man auf das Geiseldrama im Moskauer Musical „Nord-Ost“ gestoßen, auf Heiner Müllers Vision von der Dritten Welt, die die Erste Welt überrennt, die imperialen Parallelen von Rom und Washington drängen sich sowieso auf. Nun, Johan Simons erliegt diesen starken dramaturgisch-politischen Verlockungen nicht. Keine aktuelle Polemik, sondern das Gegenteil. Stille, Erstarrung, Leere. Sehr bald spürt man, dass die konsequente Verweigerung einfach nur tödlich ist. Tödlich langweilig.

Simons lässt es krachen, ein einziges Mal, erst gegen Ende der zweistündigen Séance. „Back in the USSR“ von den Beatles dröhnt aus den Boxen, die Bühne stellt sich fast senkrecht, die Schauspieler halten sich verzweifelt an den Sitzreihen fest, purzeln herum. Ein Theater-Selbstzerstörungsbild. Eine ähnliche Klimax wie bei Castorfs „Endstation Amerika“, wenn der Neumann’sche Container zu Kurt Cobains „Entertainer“ kippt.

Wir haben keine Sprache, keine Fantasie, um der Gewalt in der Welt zu begegnen: Das mag Simons’ Grundgedanke sein. Ihm opfert der Regisseur den visuellen Reiz. Mit einer streng protestantischen Ästhetik – und dem moralischen Terror der Mikroport-Technik, die Intimität behauptet und das Drama in die Köpfe der Zuschauer zurückschickt. Simons hat aus Müllers lustig-blutrünstig-hartem „Shakespearekommentar“ einen melancholischen „Müllerkommentar“ gemacht.

„Ich bin nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr. Meine Worte haben nichts mehr zu sagen. Meine Gedanken saugen den Bildern das Blut aus. Mein Drama findet nicht mehr statt. Hinter mir wird die Dekoration aufgebaut. Von Leuten, die mein Drama nicht interessiert, für Leute, die es nichts angeht. Mich interessiert es auch nicht mehr. Ich spiele nicht mehr mit.“ Schlagende Sätze aus Müllers legendärer „Hamletmaschine“ von 1977. Der Regisseur Robert Wilson hat dafür einst Bilder gefunden, die abstrakt und glühend zugleich waren. Und zu schön?

Johan Simons gibt in München den letzten Rest von Theatralität und Illusion preis. Er glaubt: Gewalt und Terror sind überhaupt nicht darstellbar auf der Bühne, nur als ferne Resonanz. Wir haben, so könnte die Bilanz lauten, das Leiden verlernt, sogar das verzweifelte Lachen darüber. – Eine solche Pose kann man auch arrogant nennen. Sie provoziert ein Unbehagen, wie man es häufig bei Konzept- und Installationskunst empfindet.

Heiner Müllers Theatertexte haben (für jetzt? für immer? ) ihren heiligen Schrecken verloren. Dem Kalten Krieg entsprungen, zitierten sie den heißen Krieg einst wolllüstig herbei. Nach dem 11. September, nach Afghanistan- und Irak-Krieg, angesichts der täglichen Bombenanschläge wirkt Müllers visionäre Dramatik nah und fern zugleich. Eingetroffene Prophezeiungen haben keine große Kraft mehr: Alles Müller oder was?

Rüdiger Schaper

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