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Kultur: Skrupel eines Fremdlings

Kent Nagano entzaubert Beethovens „Missa solemnis“ – und blickt auf sechs lehrreiche Berliner Jahre zurück

Oft wissen wir etwas, ohne zu wissen, dass wir wissen. Oft hat sich uns längst etwas eingeprägt, auratisch, empirisch, das wir so noch nie ausgesprochen haben. In diesem Fall hilft es, die Nase von der Glasscheibe zu nehmen und ganz wild und roh und anarchisch zu werden – und frei zu assoziieren. Simon Rattle zum Beispiel: Was kommt einem bei ihm als Erstes in den Sinn? Pinocchio vielleicht oder das Chorgestühl einer britischen Kathedrale oder die Anfangstakte von Beethovens Sechster, der Pastorale, mit angespannten Mundwinkeln? Oder Daniel Barenboim: Furtwängler, west-östlicher Divan, das Napoleonische? Und Thielemann: neben dem Alten Fritz nur Wagner, Wagner und Wagner? Klischees, gewiss. Aber: im Kern wesentlich.

Mit diesen Kalibern hat Kent Nagano sich in seinen sechs Jahren beim Deutschen Symphonie-Orchester Berlin zwangsläufig auseinander setzen müssen. Die Herren waren schließlich da, vor ihm vor Ort, besetzten Plätze und Profile. Klares Fazit: Nagano hat sich elegant geschlagen. Er, der von der Peripherie kam, aus Lyon und aus Manchester, wollte ja unbedingt dazugehören, wollte rein in den Club der Großmogule. Und er hat seine Taktik – jenseits der Kunst – sehr genau überlegt und abgesichert. Heute ist Nagano drin, wird Nachfolger von Zubin Mehta („Die drei Tenöre“) an der Bayerischen Staatsoper, steht dem ehrgeizigen Symphonieorchester in Montreal vor. Das DSO als Versprechen, als strammer Steigbügel. Ein karrieristisches Wunderkind ist der aparte Langhaarträger deswegen nicht: Mit 55 haben andere schon ganz andere Pult-Hoppings hinter sich.

Denken wir also Kent Nagano: Askese fällt einem ein (die bayerische Küche dürfte ihm in dieser Hinsicht einiges abverlangen); außerdem – in Erinnerung an jene puristischen Mandelaugen-unter-Silbersträhnen-Plakate, mit denen Berlin im Herbst 2000 gepflastert war – so etwas wie „Nivea for Men“. Der Kalifornier mit den japanischen Wurzeln ist nun einmal good looking. Und: Demut, ja, Kunst als spirituelles Hochamt. Und das meint jetzt nicht die Wir-begreifen-uns-doch-alle- als-Diener-an-der-Musik-Schublade. Nagano, der vor seinem Antritt beim DSO hauptsächlich von der klassischen Moderne her kam, von Bartok, Strawinsky, Varèse und natürlich von Olivier Messiaen, seinem großen Pariser Lehrer, hatte gelernt, jede Partitur als etwas ursächlich Fremdes zu begreifen, etwas Uneigenes. Das war, das ist sein Pfund.

Die Musik, die er dirigierte, gehörte also nicht ihm an, sondern in erster Linie dem Kulturkreis, dem der Komponist und viele (privilegierte) Interpreten entstammten. Nagano war – und da konnte „sein“ Kalifornien der fünfziger und sechziger Jahre sich so europäisch infiziert gebärden, wie es wollte – der Alien. Ein Außenseiter, der sein Außenseitertum zur Bedingung machte. Heiliges Fremdeln: Das mag man bescheiden nennen oder ehrlich, vielleicht ist es nur vernünftig. Andere – wie Seiji Ozawa oder die junge chinesische Pianistengeneration mit Lang Lang und Yundi Li – gehen hier osmotischer zu Werke, offenherziger. Diese Wahl hatte Nagano offenbar nicht.

Also löst er vieles in der Musik mit Brillanz und Fleiß. Stücke, die das Welt- wie Werkganze offensiv in Frage stellen, es aufkündigen, ja schreiend scheitern, kommen ihm dabei entgegen: die Sinfonien Bruckners und Gustav Mahlers, mit denen er in Berlin jenseits aller Überwältigungsstrategien überwältigende Klarheiten schafft, die Moderne, die von Webern bis Stockhausen ebenso leuchtet wie von Schönberg über Schnittke und Bernd Alois Zimmermann bis Kurtág und Rihm. Auch die so genannte Alte Musik profitiert von Naganos Coolness, seinen unbestechlichen Strukturanalysen: Ockeghem, Monteverdi, Schütz.

Mit dem klassischen Herz des Repertoires indes – mit Haydn, Mozart, Beethoven, auch mit Schubert – tat und tut er sich schwer.

Weil er, in aller Bescheidenheit, das Risiko des Emotionalen, allzu Persönlichen scheut. Weil dieses Feld gerade in Berlin von anderen Anwälten bestellt und heftig beackert wird. Und weil Nagano selbst weder Egomane genug ist noch sich im Grunde seiner Seele legitimiert und/oder zuständig fühlt, den Goldenen Schnitt von Mozarts g-Moll oder Schuberts großer C-Dur Sinfonie, von Mendelssohns Violinkonzert oder Bachs (!) Kantaten je anzuzweifeln. Aus Demut, wie gesagt, mit den Skrupeln des Fremdlings.

So sehr es ihm dabei um die eigene ästhetische Handschrift zu tun ist, so wenig formuliert er diesen Anspruch ideologisch. Bei Nagano sagt die Musik, was sie will. Und er ist nicht dazu da, Urteile zu fällen. Oder Bekenntnisse abzulegen. Unverblümter hat kein Dirigent sein postmodernes Selbstverständnis bislang auf den Punkt gebracht.

Insofern ist Naganos Abschied vom DSO mit Beethovens „Missa solemnis“ am gerade vergangenen Wochenende ein programmatischer, hoch symptomatischer. Eine Messe über das Messeschreiben, bar jeden wallenden Kirchengewands. Ein Versuch über das Religiöse in dieser Welt, der von Anfang an nicht zugunsten des Glaubens ausgeht. Und, natürlich, einer von Beethovens manisch-irren Anläufen, mit der Form in der Form die Form selbst zu sprengen: Weil Gott einzig „über Sternen“ wohnt, dort, wo keine Beschränkung gilt und nichts mehr überwunden werden will, da, wo die Musik sich selbst das Gesetz gibt.

Bei Kent Nagano findet dieses alles zu großen Teilen wie hinter einer Glaswand statt. Das DSO: buchstäblich auf rohen Eiern musizierend, zart, transparent, jede Klangmassierung meidend und sich bisweilen mit kammermusikalischer Intimität ausmärend (selbst im „Credo“!). Der von Simon Halsey perfekt ausbalancierte Rundfunkchor: ebenfalls alles andere als die große tönende Klagemauer, nicht das Kollektiv, in dessen Armbeuge sich Verantwortung abgeben und raunend Trost finden lässt. Statt dessen: der Klang- Raum, den die Partitur braucht, das Firmament, das das Geschehen in aller galaktischen Ferne überwölbt. Einzig das Solistenquartett (Anne Schwanewilms, Marie-Nicole Lemieux, Klaus Florian Vogt, Günter Groissböck) vermochte sich dieser Lesart und Versuchsanordnung nicht ganz zu beugen, dividierte sich in ein eher vordergründiges Dramatisieren der beiden hohen Stimmen und in schöne Ensemblearbeit der tiefen. Schade.

Nun muss es gewiss nicht sein wie einst unter Leonard Bernstein: Dass der Dirigent der Erste ist, dem vor Ergriffenheit und Rührung Tränenbäche über die Wangen schießen. Etwas mehr Erfüllung und Bewahrheitung aber hätte man sich in der Philharmonie schon gewünscht. Nagano nämlich taucht das Stück ins milchige Licht einer vollzogenen, überwundenen, erinnerten Aufklärung. Das heißt: Hier ist alles immerzu gewesen. Das suchende, sich ein wenig gequält in den Raum vorschiebende „Kyrie“, der überaus kultivierte Zerfall des „Gloria“, die scheinbare Auflösung sämtlicher Strukturen im „Credo“ (passagenweise klingt das tatsächlich wie eine Überblendung von früher Polyphonie mit Ligeti), die lakonischen, alles Schicksalhafte verweigernden Abstürze der Solo-Violine im „Sanctus“ (Bernhard Hartog), die unverhoffte Grazie, der tänzerische Schwung des „Agnus dei“, von dem man nicht recht weiß, ob er nun makaber gemeint ist, hämisch, oder einfach bloß versöhnlich und lieb.

Dabei ist dieses Finale wirklich stark. Indem Nagano weder auf Betroffenheit setzt noch auf Läuterung im Leiden, indem er die Musik auseinander nimmt, ohne ihr respektive sein Heil im Zusammenhang je gesucht zu haben, ertönen die „Miserere“-Rufe wie aus einem lang erkalteten Fegefeuer. Dann ein letztes, drohend geflüstertes „pacem, pacem“ und ein allerletzter Paukenwirbel in dreifachem Pianissimo. Nix Friede auf Erden. Nur ein desillusioniertes Ich, das, im Metaphysischen stochernd, sich selbst begegnet. Man ertappt sich bei dem Gedanken, Nagano dirigiere hier etwas, das er so vielleicht gar nicht dirigieren will. Weder als gläubiger Mensch noch als gläubiger Musiker. Und genau das wäre dann wohl der entscheidende Schritt heraus aus der Fremdheit, der mühsam und angstvoll gewahrten Distanz.

Dieses dialektische Potenzial jedenfalls muss Naganos Dramaturg Dieter Rexroth früh erkannt haben. Und lagerte alles (Gesellschafts-)Kritische aus, siedelte die Provokation eines Abends im Luftraum zwischen den einzelnen Stücken an, kreuzte Brahms mit Rihm, Mahler mit Ockeghem, Bruckner mit Bach. Die Programmatik der Berliner Jahre hat Kent Nagano durch eine harte Schule geschickt. Jetzt ist es für ihn an der Zeit, zu wissen, was er weiß. Jetzt muss die Musik selbst aussprechen, was in ihr steckt.

Christine Lemke-Matwey

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