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Kultur: So groß wie eine Ananas

Wie nah kamen die Nazis der nuklearen Wunderwaffe? Ein umstrittenes Buch über „Hitlers Bombe“ sagt: näher, als wir dachten

„Ich stand am Fenster des Südflügels“, erinnert sich Cläre Werner an den Augenblick, als sie auf der thüringischen Wachsenburg Zeugin eines rätselhaften Schauspiels wurde. „Und auf einmal sahen wir eine große schlanke Säule in die Luft gehen, und es war so hell, wir hätten am Fenster Zeitung lesen können. Diese Säule vergrößerte sich oben und sah aus wie ein großer wohlbelaubter Baum.“ Wenn es stimmt, was die alte Dame vor 60 Jahren gesehen haben will, wäre das eine Sensation: Die SS soll im März 1945 auf dem Truppenübungsplatz Ohrdruf mindestens einen Atombombentest durchgeführt haben. Diese These vertritt zumindest Rainer Karlsch in seinem Buch „Hitlers Bombe“, das heute mit einigem Aufwand in der Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellt wird und bereits vorab zu heftigen Diskussionen unter Historikern, Physikern und Nuklearwaffenexperten geführt hat.

Karlschs Studie über die – so der Untertitel – „geheime Geschichte der deutschen Kernwaffenversuche“ steht in krassem Gegensatz zu der landläufig und durch etliche Untersuchungen gestützten Auffassung, das Dritte Reich sei weit davon entfernt gewesen, die Bombe zu bauen. Nicht einmal einen funktionstüchtigen Reaktor hätte die Gruppe um Werner Heisenberg, intellektueller Kopf des „Uranvereins“, zustande gebracht. Wie soll ihnen da gelungen sein, wofür es in Amerika eines Stabs von 125000 Mitarbeitern, der versammelten Atomphysiker-Elite sowie mehrerer Milliarden Dollar bedurfte? Hatte Heisenberg bei Kriegsende nicht eingeräumt, er und seine Kollegen hätten auf dem Weg zur Uranmaschine „gar nicht den moralischen Mut aufgebracht, der Regierung zu empfehlen, 120000 Mann einzustellen, um die Sache aufzubauen“?

Seit 1945 das alliierte Sonderkommando „Alsos-Mission“ die Labors der NS-Forscher durchsuchte und deren Versuchsreaktoren demontierte, hält sich die Legende von den integren Genies. Heisenbergs Assistent Carl Friedrich von Weizsäcker behauptete gar, sie seien gescheitert, „weil alle Physiker im Prinzip gar nicht wollten, dass es gelang“. Hitler sollte die Bombe, um deren Zerstörungskraft die Wissenschaftler wussten und die der Äußerung zufolge „etwa so groß wie eine Ananas“ sein sollte, nicht in die Hände bekommen. Stattdessen sahen sich Heisenberg & Co. als Väter der „zivilen Reaktorforschung“. Die Konstruktion eines nuklearen Sprengkörpers hätten sie bewusst hinausgezögert.

Das sah ein Mann wie Kurt Diebner anders. Der Physisker beim Heereswaffenamt, der beim Bau der Uranmaschine mit Heisenberg erbittert um das effektivere Reaktormodell stritt, gilt bis heute als ehrgeiziger, aber unqualifizierter Technokrat. Er habe „im Oberlaborantenstil herumexperimentiert“, zitiert die „FAS“ einen Kollegen. Von moralischen Skrupeln soll er erst recht nicht berührt gewesen sein. Karlsch fördert nun Dokumente und Hinweise zutage, die Diebners Rolle neu beleuchten. Danach soll der Heisenberg-Rivale seine Experimente in der Heeresversuchsanstalt in Gottow keineswegs schon im Frühjahr 1944 eingestellt haben, sondern erst ein halbes Jahr später – und eine größere Menge an spaltbarem Material gewonnen haben.

Auch Erich Schumann, eine bislang unterschätzte Schlüsselfigur des Unternehmens, weckt Karlschs Interesse. Im Nachlass des einstigen Chefs der militärischen Forschung fanden sich Unterlagen, nach denen das Heereswaffenamt sich den Sprengmechanismus so genannter Hohlladungen – erfolgreich in Panzerfäusten angewendet – für eine Kernfusion zu Eigen machen wollte. Dabei wären Uranplatten durch konventionellen Sprengstoff mit enormem Druck und extrem hohen Temperaturen auf eine Neutronenquelle gepresst worden.

Ob es je zu Experimenten mit diesem Explosionstyp kam, bleibt ungewiss. Zu dünn sind Karlschs Belege für seine Theorie. „Blanker Unsinn“, schimpft „Die Zeit“, und „Der Spiegel“ nennt Karlschs Thesen „abenteuerlich“. Tatsächlich stützt sich der Autor an vielen Stellen auf Mutmaßungen. Auch entbehren seine Schlussfolgerungen nach Meinung vieler Experten des physikalischen Sachverstands, obwohl sich der Wirtschaftswissenschaftler prominente Berater holte.

Die im Dritten Reich verfügbare Menge an angereichertem Uran hätte auch nach Meinung von Karlsch für eine Kernexplosion niemals ausgereicht. Trotzdem glaubt er, dass Diebner schließlich „Kernwaffentests“ durchgeführt habe, einen im Oktober 1944 auf Rügen, zwei weitere in Ohrdruf. Vor allem hier verdichten sich die Hinweise, dass tatsächlich „eine Kettenreaktion mit Energiefreisetzung“ stattgefunden haben könnte. Denn nicht nur berichtet die Augenzeugin Cläre Werner von Nasenbluten, Kopfschmerzen und Übelkeit bei Anwohnern sowie Insassen des nahe gelegenen KZs. Auch fand Karlsch in russischen Archiven den Bericht eines NKWD-Informanten, der ebenfalls von einer Bombe mit „starkem radioaktiven Effekt“ sprach. Falls es sich um eine Atomwaffe handele, ließ man Stalin wissen, könne sie in der Lage sein, „unsere Offensive zu verlangsamen“.

Doch wird dieses historische Rätsel nicht in Archiven gelöst, sondern im Labor der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig. Das wurde nun um ein Bodengutachten gebeten. Erst danach wird klar sein, wie nahe die Nazis ihrer Wunderwaffe kamen. Vielleicht näher, als wir dachten.

Rainer Karlsch, Hitlers Bombe. Die geheime Geschichte der deutschen Kernwaffenversuche. DVA München 2005, 432 Seiten, 24,90 Euro.

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