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Kultur: So ist es

Der Dichter Hans Keilson zu Besuch in Berlin

Von Caroline Fetscher

Seine Gedichte rezitiert er auswendig. Lebendig, fließend, frei von Pathos, dass kaum jemand glauben kann, einen Mann vor sich zu haben, der nahezu ein Jahrhundert alt ist. Man vergisst das ganz, nach dem ersten Staunen. Hans Keilson, Psychoanalytiker und Schriftsteller, der gestern in der Berliner Buchhandlung Marga Schoeller Teile seines lyrischen Werks vortrug, begeht heute in der Tat seinen 96. Geburtstag.

Keilson, geboren 1909 in Freiwalde in Brandenburg, wird jetzt nach Holland zurückreisen, wo er noch immer praktiziert, seit er als junger Mediziner aus Berlin vor dem Nationalsozialismus dorthin flüchtete und Dank eines falschen Passes und richtiger Freunde am Leben blieb. Von 130 000 Juden in den Niederlanden überlebten 20 000 die Schoa, und im März 1943 nahm Hans Keilson in den Niederlanden von seinen Eltern Abschied. Mutter und Vater wurden in Auschwitz-Birkenau ermordet. Nur einmal, als er das Gedicht zur Trauer über die Eltern spricht, bricht seine Stimme ihm beinahe weg. Er fasst sich wieder. Nüchtern und freundlich erklärt er danach: „Entschuldigen Sie, aber so isses“.

So ist es: So könnte das knappste Motto für Hans Keilsons Position lauten. Er hat keine Furcht vor der Wahrheit und scheut Emotionen so wenig wie analytische Erkenntnis. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begann der Sechsunddreißigjährige mit der schwerstmöglichen Arbeit eines Analytikers, der Therapie traumatisierter jüdischer Waisen, die der Schoa entronnen waren und ihre Familien verloren hatten. Dabei gelangte der Arzt an den Ort der Seele, „Wohin die Sprache nicht reicht“, wie sein berühmter Essaytitel lautet. Später veröffentlichte er seine inspirierende Studie zur Traumatisierung bei Kindern.

Weniger bekannt und noch zu entdecken ist Keilsons jetzt in einer Gesamtausgabe erschienenes erzählerisches Werk für das er im November den Johann-Heinrich-Merck-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erhielt (Hans Keilson: Werke in zwei Bänden. Herausgegeben von: Heinrich Detering und Gerhard Kurz. Romane und Erzählungen, Gedichte und Essays. 64,90 Euro. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2005). Im Frühjahr 1933 war sein erster Roman „Das Leben geht weiter“ erschienen, als das letzte Debüt eines jüdischen Autors im alten S. Fischer Verlag. Das Buch wurde sofort verboten. Mit Deutschland, sagt Keilson, verbindet ihn heute nur eins: „Freud schrieb auf Deutsch“. Melancholische Heiterkeit. Da spricht ein Mensch.

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