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Kultur: So weit die Füße tragen

Museumssammlungen wachsen stetig. Der Besucher hingegen hat es gern übersichtlich.

In der „Denkschrift“, die die Generaldirektoren der damals noch unvereinten Staatlichen Museen zu Berlin 1990 vorlegten, steht ein kleiner, bedeutungsschwerer Satz: „Museen können in ihrem öffentlichen Bereich nicht beliebig groß wachsen!“ Er richtete sich gegen das Hinüberwachsen der Museumsinsel auf das Nachbarufer, genau das also, was nun mit der Errichtung eines Neubaus gegenüber dem Bode-Museum wieder angestrebt wird. Gewiss, diese Warnung diente auch dazu, den Bau der – nun, 2012, als Fehlplanung erachteten – Gemäldegalerie am Kulturforum zu rechtfertigen. Das Wachstum der Museen, in Berlin und überall auf der Welt, ist aber eine Tatsache, die in einem nun schon Jahrzehnte währenden Boom in immer neuen Beton gegossen wird und anscheinend kein Ende kennt.

Am einfachsten zu rechtfertigen ist dies mit dem zunehmenden Interesse des Publikums. In Deutschland bewegt sich die Zahl der jährlichen Museumsbesuche – was nicht dasselbe ist wie die Gesamtzahl der Besucher – bei 115 Millionen. Museen zählen zu den „weichen“ Standortfaktoren, ihre ökonomische Wirkung ist nicht unmittelbar messbar, leuchtet aber vom bloßen Augenschein her ein. Man muss sich nur durch die großen Museen von Paris, London oder Madrid drängeln, um die Konsumwilligkeit der internationalen Touristen förmlich zu spüren. Von einer Stadt wie Florenz ganz abgesehen, die ohne Besuch in den Uffizien gar nicht zu denken ist. Oder eben Bilbao, ein zuvor heruntergekommenes Industriezentrum, dessen Revitalisierung allein dem Museumsneubau von Frank Gehry zugeschrieben wird: der sogenannte Bilbao-Effekt.

Das Wachstum der Museen ist einer Art Schneeballsystem zu verdanken. Neue oder erweiterte Museen ziehen neue Besucher an, machen aber immer weitere Attraktionen notwendig, um ihre Beliebtheit zu halten. Touristen, zumal individuell reisende Kulturtouristen, sind „volatil“. Wer Ende der neunziger Jahre nach Bilbao pilgerte, als es neu und aufregend war, muss Jahre später nicht unbedingt ein zweites Mal dorthin wollen.

Nun gilt dieser Sachverhalt nicht für die großen Metropolen, deren Anziehungskraft ohnehin gegeben ist und nicht von einzelnen Museen abhängt, ja nicht einmal von der Museumslandschaft in ihrer Gesamtheit. Und doch unterliegen die Ausstellungshäuser der Metropolen mindestens ebenso sehr dem Wachstumszwang, meist, indem sie aus sich heraus neue Zweigmuseen generieren. So kann Londons ehrwürdige Tate Gallery mit ihrem supererfolgreichen Ableger Tate Modern aufwarten, der nun seinerseits bereits einen gewaltigen Anbau erhält.

Dabei ist die Tate Modern vom Gebäude her größer als ihr Inhalt. Andere, weltberühmte Häuser haben wahrlich mehr zu bieten, rein quantitativ betrachtet. So unterschiedlich sie auch sein mögen, ob Louvre, British Museum, Eremitage oder das Metropolitan Museum in New York – keines dieser Häuser ist auch nur halbwegs an einem Tag zu ermessen. Und welcher Besucher plant schon einen kompletten Besichtigungstag ein, oder gar deren zwei oder drei?

In diese Reihe gehört auch die Berliner Museumsinsel. Eine Zeit lang entzündete sich die Kritik an der Archäologischen Promenade, die vier der fünf Häuser auf der Insel unterirdisch miteinander verbinden soll – derzeit ist es um die Promenade merkwürdig still geworden. Abwertend war vom Schnellrundgang die Rede, den Touristen auf der Jagd nach den Highlights absolvieren würden. Das Konzept macht das Dilemma der Museumsinsel deutlich. Die auf enzyklopädische Vollständigkeit ausgerichtete Sammlungspräsentation überfordert den Normalbesucher und zwingt ihn geradezu zu jenem beargwöhnten Schnelldurchlauf, will er auch nur einen Blick auf die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten erhaschen.

Das zeichnet sich auch für die Gemäldegalerie ab. Der enzyklopädische, wissenschaftliche Sammlungsaufbau steht im Gegensatz zu den Wünschen bei einem touristischen Besuch. Den Museumsmachern geht es nicht um eine Parade der Meisterwerke, sondern um eine Darstellung der Kunstentwicklung in ihren regionalen und stilistischen Verästelungen. Das mag man aus bildungsbürgerlichem Anspruch heraus begrüßen, aber am Museumsalltag zielt es vorbei. Der ist nun einmal, ob in Berlin oder bei der wegen ihrer Besucherzahlen gerne als Vorbild beschworenen National Gallery in London, vom begrenzten Zeitbudget der Besucher geprägt, von Touristen mit bequemem Schuhwerk auf der Suche nach den Glanzstücken. Mögen die Füße auch weit tragen – die geistige Aufnahmefähigkeit ist gewiss nicht im selben Maß zu steigern.

Dass das Museumswachstum an Grenzen stößt, ist keine neue Erkenntnis. Nur, wo wären die Grenzen zu ziehen? Es sind ja die kostbaren Sammlungsbestände, die herrisch nach Platz verlangen. Bei der Neueinrichtung der Museumsinsel seit der Wiedervereinigung der Staatlichen Museen 1990 wurden gleich drei Häuser den archäologischen Sammlungen zugeschlagen, Altes, Neues und Pergamonmuseum – wie dies vor dem Krieg nicht der Fall war. Ehrwürdige Traditionen, wie sie auch jetzt wieder im Disput um die Zukunft der Gemäldegalerie im Bode-Museum bemüht werden, spielten da keine Rolle. Nicht, dass es an guten Gründen mangelte, so zu verfahren. Es ist die Macht des Faktischen, es ist das Anwachsen der Sammlungen – ungeachtet aller Kriegsverluste –, das zur Nutzung von Ausstellungsflächen zwingt, wo immer sie sich bieten.

Und wo sie sich nicht bieten, müssen sie geschaffen werden – wie künftig, wenn die Haushälter des Bundes mitspielen, im Erweiterungsbau für die Gemäldegalerie gegenüber dem Bode-Museum. Die Fläche wäre dann etwa verdoppelt. Wem also das Bode-Museum jetzt schon groß zu sein scheint, der wird mit ihm dermaleinst gerade die Hälfte der Sammlungen an Gemälden und Skulpturen erwandert haben. Dann heißt es, zum anderen Ufer des Kupfergrabens zu wechseln und dort die zweite Hälfte zu bewältigen, in einem Neubau, der den Besuch hoffentlich zu einem Erlebnis machen wird wie jetzt am Kulturforum. Nur dass jedem Erlebnis Grenzen gesetzt sind, zumal wenn man die Gesamtheit der Museen auf der Insel bedenkt.

„Museen können nicht beliebig groß wachsen“: Wann, wo, wie wird in Berlin das Wachstum der Staatlichen Museen zum Stillstand kommen? Vom Humboldt-Forum war bislang noch gar nicht die Rede. Das dient zwar auch als neue Bleibe für die ethnografischen Sammlungen und derzeit in Dahlem untergebrachte außereuropäische Kunst. Aber gerade auf diesen Feldern scheint Wachstum geradezu unvermeidlich, bedenkt man die Ausweitung des hergebrachten eurozentrischen oder, altmodischer formuliert, abendländischen Horizonts.

Kommt der Museums-Bauboom erst dann an sein Ende, wenn das letzte freie Grundstück in der Mitte Berlins museal genutzt wird? Die Museumsinsel jedenfalls ist gewissermaßen voll. Und mit dem Sprung ans andere Ufer verliert sie, was Eberhard Roters, der Gründungsdirektor der Berlinischen Galerie, 1991 im Tagesspiegel ihre Persönlichkeit genannt hat: nämlich eine Insel zu sein im hauptstädtischen Getriebe.

Nun gut, diese eine Erweiterung, die „zweite“ Gemäldegalerie, zerstört diesen Wesenszug nicht. Für sie sprechen die besten Argumente. Aber für die Gesamtheit aller Museen ist es an der Zeit, sich vom ewigen Wachstumsdrang zu verabschieden und die Energien darauf zu lenken, das Vorhandene zu konzentrieren und zu verdichten. Im Sinne des Humboldt’schen Ideals, „Erst erfreuen, dann belehren“. Und nicht des Überwältigens und Überforderns durch schiere Quantität.

Übrigens wird das Ende der Baumaßnahmen auf und an der Insel mittlerweile auf circa 2030 geschätzt. Das wäre der 200. Geburtstag der Eröffnung des Schinkelschen Museums, mit dem alles begann.

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