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Sommernächte (5): Marseille: Am Fenster mit Paulina

Lang ersehnt, erträumt, erdichtet und erinnerungsträchtig: Sommernächte sind die schönste Auszeit des Jahres. In den Ferien erzählen wir an dieser Stelle davon. Diesmal: Marseille.

Das grüne Neonlicht, das aus dem Rekrutierungsbüro auf den Asphalt fiel, war das einzige kühle Element jener Nacht; sie mag nun gut dreißig Jahre zurückliegen. Es kam aus dem Stützpunkt der Fremdenlegion, „geöffnet Tag und Nacht“ für Männer, die mit einer Unterschrift ihr Leben wegwerfen oder retten wollen. Die Geschichten um die Legion étrangère sind – Legion. Ich zögerte einen Moment, dachte an mein Verhör als Wehrdienstverweigerer und setzte meinen Weg fort zu dem kleinen Hotel oberhalb des Vieux Port von Marseille.

Ich fühlte mich ausgesetzt, aber freiwillig.

Es war heiß. Es war heiß in meinem Kopf vom Wein im Restaurant. Ich hatte noch eine weitere Flasche bei mir und ein Buch, meine beiden Begleiter durch die Nacht, die noch kein Handy kannte und, soweit ich mich erinnern kann, auch weder Telefon noch Fernseher in der Absteige, die hoch über dem Strand hing in einer lauten Uferstraßenkurve. Ich saß am weit offenen Fenster, trank und las. Und las ... Was wollte ich in Marseille in jenem Sommer? In nenne es mal Mythen schmecken. Freiheit testen. Einsamkeit erproben. Entfernung aushalten.

Das Buch trug den Titel „Paulina 1880“, ein Roman des französischen Schriftstellers Pierre Jean Jouve. Das Buch stammt aus den Zwanzigern, eine Liebesgeschichte, die einer Nonne zustößt. Ich hatte es in Marseille von einem Straßenhändler gekauft, vom Klang des Mädchennamens und der Jahreszahl angezogen. Darin lag eine romantische Spannung. Ich las, atemlos. Trank und rauchte. Schaute auf das nächtliche Meer hinaus, in Richtung Chateau d’If, wo der Graf von Monte Christo eingesperrt war. Auch ich fühlte mich ausgesetzt, aber freiwillig. Ein anderer Roman von Jouve hieß „Die leere Welt“, ein Dreiecksdrama in den Alpen.

Ein ausgelesenes Buch ist ein wertvoller Schatz

Aber jetzt war es Paulina, die mir ans Herz wuchs, die Kehle zudrückte. Die Qual in der Zelle. All die verbotenen Gefühle, dabei kann man Gefühle gar nicht verbieten – höchstens, dass man sich ihnen hingibt, ihnen folgt. Ich trank in der Nacht von Marseille die Flasche leer und las das Buch bis zur letzten Seite. Die Buchstaben, die Zeilen tanzten mir entgegen. Die Nacht war nicht dunkel, das Meer war pechschwarz. Paulina leidet, liebt einen verheirateten Mann. Stürzt sich in religiöse Verzückung, es geht ihr drunter und drüber im Kloster und im Körper.

Auf Reisen kaufe ich immer Bücher in der Sprache des Landes, egal wo. Pessoa auf Madeira, Wenedikt Jerofejew in Moskau, Strindberg in Stockholm. Aber das kommt alles erst später. „Paulina 1880“ in Massilia, wie die Römer die Stadt nannten, war meine erste Reiseaffäre. Heißt es nicht, man lernt eine Sprache am besten durch die Liebe? Am andern Morgen schleppte ich mich schwer zum Strand, dachte an das Buch und rekapitulierte die Geschichte. Ein ausgelesenes Buch ist ein wertvoller Schatz, den man sich angeeignet hat, mit seinen Tönen, Farben, Reden, Landschaften und Stimmungen, seinen Menschenexemplaren und ihren mehr oder weniger kathartischen Erlebnissen. Nach dieser Nacht war Paulina mein. Seltsam ist nur, dass ich zu der Zeit kein Französisch verstand. Es hätte kaum für die Speisekarte gereicht.

Weitere Texte der Serie: Draußenschlafen (10.7.), Die Nachtigall (13.7.), Sommerdüfte (16.7.), Weckerklingeln (20.7.), Hoteltipps (27.7.), Seenot (30.7.), Wintersehnsucht (2.8.), Glühwürmchen (7.8.), Dunkelheit (10.8.), Fähren (14.8.), Mücken (20.8.), Lebensfries (24.8.)

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