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Sommertheater: Tolstoi-toi-toi

Ehekrieg und Seelenfrieden: Wie Volker Schlöndorff in Neuhardenberg Sommertheater macht.

Eine einfache Rechnung, ein Kampf auf Biegen und Brechen: Ein bettelarmer Bauer fällt Bäume in dem Wald, der seinem Gutsherrn gehört. Er wird verhaftet. Und der Gutsherr tobt – er ist zutiefst verletzt in seinem Gerechtigkeitsempfinden. Fährt in die Stadt und sorgt dafür, dass der Bauer freikommt. Denn, so argumentiert Nikolai Iwanowitsch, ein autobiografisches Abbild des Grafen Lew Tolstoi: „Wir haben neunhundert Hektar Wald, und auf jedem Hektar stehen ungefähr 500 Bäume, macht zusammen, wenn ich nicht irre, 450 000 Bäume. Sie haben davon zehn Bäume gefällt, also ein Fünfundvierzigtausendstel.“

Der Großgrundbesitzer fragt: Darf man einen Menschen deshalb „von seiner Familie losreißen und ins Gefängnis stecken?“ Selbstverständlich, ja, meint sein Sohn. Sonst kommen die Bauern und holzen nach und nach den gesamten Besitz ab. „Die ganze politische Ökonomie, wie du sie studiert hast an der Universität“, haut ihm der Alte um die Ohren, „ist doch nur eine Rechtfertigung der bestehenden Verhältnisse.“

Vor über hundert Jahren im zaristischen Russland geschrieben, erinnern diese Sätze frappierend an den Fall Emmely, die fristlos gefeuerte Kassiererin, die läppische Pfandbons „unterschlagen“ hat. Lew Tolstois Stück „Und das Licht scheint in der Finsternis“ sprüht vor Aktualität. Nikolai Iwanowitsch, die Hauptfigur, quält sich mit dem unlösbaren Problem der Verteilung von Geld und Besitz. Er will, ein Paria seiner Klasse, alles den Armen überschreiben, er macht Revolution von oben, und auch von oben herab. Ein radikaler Christ, der allein an die Bergpredigt glaubt, ein Fanatiker. Seine Frau, seine Freunde halten ihn für wahnsinnig. Er bricht einen Ehekrieg vom Zaun, um des sozialen Friedens willen.

Schweres Geschütz für einen herrlichen Sommerabend. Die Berliner Theaterwelt ist nach Neuhardenberg gereist, man gibt sich hochgestimmt, eine feine Brandenburger Landpartie, wer denkt da an Wahlkampf, soziales Elend oder Banker-Boni! Kultur ist ein starker Panzer, besonders dann, wenn sie sich hübsch politisch kleidet. „Wir führen kluge Reden über Schumann und Chopin, der uns stärker berührt als das Elend da draußen“, wettert Nikolai Iwanowitsch: „Man kann nicht so leben, wie wir leben.“

Selbstverständlich kann man wunderbar so leben, im Kulturbetrieb. Volker Schlöndorff hat Tolstois Drama auf einer Wiese im Park von Schloss Neuhardenberg in Szene gesetzt; eine deutsch-russische Koproduktion. Im September wird die Aufführung auf Tolstois Landgut Jasnaja Poljana gezeigt, als „Hommage an den großen Sohn Russlands Lew Tolstoi, dessen Tod sich im nächsten Jahr zum 100. Mal jährt.“ Man erhofft sich von der Reise zum Ursprungsort, wo einmal die besagten Bäume standen, eine Art von Authentizität. Aber auch Neuhardenberg gibt eine sprechende Kulisse ab – der Familiensitz des preußischen Reformers. Hier, im traumhaft friedlichen Park, hielt Hartz-IV-Kanzler Gerhard Schröder vor fünf Jahren seine berühmte Kabinettsklausur zum Reformkurs ab; jener Gasprom-Gerd, der heute so viel Zählbares für die deutsch-russische Verständigung tut. Die postsozialistische, wildkapitalistische Oligarchie hätte Tolstoi um den Verstand gebracht.

Zu seinen Lebzeiten wurde „Und das Licht leuchtet in der Finsternis“ nicht mehr aufgeführt. Was auch daran liegt, dass es sich um ein – unvollendet gebliebenes – Thesenstück handelt. Trotz seiner Tschechow’schen und Gorki’schen Anmutung – Menschen debattieren auf dem Land, ein bisschen Liebesleid, viel Langeweile, Müßiggang –, trotz dieser Sommergäste-Atmosphäre ist es im Grunde kein richtiges Theaterstück. Tolstoi war Romancier, so wie Schlöndorff Filmregisseur ist. Das haben sie gemeinsam, und das merkt man der sonderbaren Veranstaltung im Park von Neuhardenberg in jedem Moment an: Hier begegnen sich zwei theaterferne Künstler.

Und verfehlen einander. Das splendide Elend beginnt mit dem Standort der Bühne. Vom Schloss ist nichts zu sehen, die Zuschauer haben es im Rücken. Da steht dies Podest im Grünen, der Blick schweift ins Weite, Schlöndorff klebt eine kleinteilige Szene an die andere. Mark Lammerts Bühnenaufbau mit vier bemalten, beweglichen Wänden funktioniert wie eine Illusionsmaschinerie: Sie produziert Innenräume unter freiem Himmel. Aus Lautsprechern scheppern die Dialoge, der schlechte, künstliche Mikroport-Sound liegt wie eine Käseglocke über der Szenerie.

Der Aufführung fehlt jegliches Gefühl für Raum und Rhythmus. Als Zuschauer ist man irgendwie drinnen, zwischen imaginären Mauern, und bleibt doch draußen vor. Ein Jammer bei der wunderbaren Besetzung: Hans-Michael Rehberg als Nikolai Iwanowitsch, Angela Winkler als seine Frau Marja Iwanowna. Selten einmal blitzt Rehbergs unerbittliche Härte auf, er ist einfach nur ein komischer Kauz, und Angela Winkler stürzt sich in leidgeprüfte Beflissenheit. Sie haben in Schlöndorffs Regie überhaupt keine Zeit, einen Konflikt zu entwickeln, von der Ehehölle der Tolstois zu schweigen. Da ist kein Satz, der sich setzen kann, der ein Echo hätte; nur Rumsteh- und Aufsagetheater.

Der theologische Showdown zwischen Nikolai und dem Geistlichen Gerassim (Willem Menne), dieser bittere Kampf von gefühltem Glauben gegen die Dogmen der Amtskirche – heruntergehaspelt, verschenkt! Seltsamerweise lassen sich Max Hopp als Pjotr Semjonowitsch, Nikolais Schwager, und Naomi Krauss als Alexandra Iwanowna, Pjotrs Frau, von der allgemeinen Hektik nicht anstecken. Max Hopp vor allem nimmt sich Zeit, findet den Atem, den eigenen Worten auch einmal nachzulauschen, Resonanz zuzulassen. Seltsam, weil Pjotr sich und Alexandra als moderne, gleichberechtigte Menschen sieht, selbst in der Ehe, die Nikolai quält und drückt.

Schlöndorffs großes Missverständnis: Er tut so, als sei „Und das Licht scheint in der Finsternis“ kein Fragment, sondern ein dramaturgisch ausgereiftes Stück. Er spielt eine von Gerhard Ahrens mit anderen Texten von Tolstoi angereicherte Fassung, und er wäre gut beraten gewesen, ins Offene zu gehen, eine offene Form zu finden für Tolstois Sozialdebatten. Den ganzen Park hätte er bespielen können. „Mir gehören die Früchte der Mühen anderer Menschen doch nicht“ – solche Worte, solchen Sprengstoff darf man nicht in vordergründiges Salontheater einsperren. Dann wirkt es lächerlich und leer, bleibt in der historischen Larve stecken.

Ästhetische Fehleinschätzungen, wie Schlöndorff sie sich hier leistet, haben einen hohen Preis. Und das ist nicht nur ein – verschmerzbares – Problem von gutem oder schlechtem Theater. Viel mehr steht auf dem Spiel: Glaubwürdigkeit und Moral. Und das Werk eines großen Schriftstellers. Jahrzehntelang hat niemand sich an diesem Text von Tolstoi versucht. Wenn man ihn jetzt ausgräbt, in einer Zeit, in der seine Fragen uns immer noch und wieder bedrücken, dann muss man eine starke künstlerische Antwort geben. Sich in den Park setzen, es sich wohl gehen lassen und über Arm und Reich, Gewissensnöte und Wohlstandsverteilung parlieren, das hat einen üblen Hautgout. Und kein Licht scheint in der Finsternis.

Und das Theater wird Teil jener Gesellschaft, die der unglückselige Nikolai Iwanowitsch so sehr verabscheut. Ein unangenehmer Mensch. Er hat doch recht.

Weitere Aufführungen vom 20. bis 23. August. Infos unter: www.schlossneuhardenberg.de

Rüdiger Schaper

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