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Kultur: Sophies Welt

Angela Schanelec reist nach „Marseille“

Ihre Augen sind Sucher, groß und klar. Ihr Kopf: ein Apparat für die wichtigsten Sinne. Ihr Gesicht: verletzlich, blass und ernst. So geht sie durch die unbekannte Stadt. Eine, die sich erfährt. Eine, die sich nicht erklärt.

Sophie – wir hören ihren Namen beiläufig und spät – ist Fotografin. Auf eine Annonce hin hat sie mit einer Frau aus Marseille die Wohnung getauscht; sie hatte eine Zeitlang frei, sagt sie jemandem, und so ist sie von Berlin weg in ein anonymes Gehäuse mit Meerblick gezogen. Sophie macht Fotos von Straßen, und irgendwann befestigt sie ein paar davon mit Klebeband an der leeren Wand. Auch „Marseille“ ist wie so ein Farbnegativfilm von Marseille und Sophie und ein paar anderen Sachen: Ein paar Bilder hängen da an der Leinwand, den Rest müssen wir schon selber sehen.

So schwer ist das gar nicht. Schließlich hängen sie in ordentlicher Reihenfolge – Marseille, Berlin, dann wieder Marseille. Nur dass da nirgendwo dransteht: „Berlin, drei Tage später“ oder „Marseille, jetzt Sommer und immer noch kalter Süden“. Die Bilder folgen, harte Schnitte, einfach aufeinander. Dann wieder kann man sie, starre Einstellungen, lange ansehen, Räume oft von draußen aufgenommen mit ein, zwei, höchstens drei Leuten drin. Gerade so, wie man ein Fotoalbum durchblättert, mit der schön sprunghaften menschlichen Aufmerksamkeit, das Fotoalbum von Sophies Welt.

Da gibt es zum Beispiel diesen wuschelköpfigen Automechaniker in Marseille (Alexis Loret) und andernabends seine freundlichen Freunde. Ob Sophie den liebt? Frag mich was Leichteres. Oder in Berlin dieser Ivan (Devid Striesow), auch Fotograf, und seine Frau Hanna (Marie-Lou Sellem), die die Magd in Strindbergs „Totentanz“ gibt, und dann ist da auch noch deren Kind Anton, um das Sophie sich manchmal kümmert, ein Freundschaftsdienst wohl. Liebt sie den Ivan, ist sie Hannas „beste Freundin“, wie jetzt manche mit einer gewissen Sehnsucht nach Eindeutigkeit schreiben? Der Film belegt das nicht. Er dementiert es auch nicht. Er gibt dir nur Bilder, und was für Bilder. Mach was draus.

Angela Schanelecs Filme, „Marseille“ ist ihr vierter, handeln von Seelenzuständen. Es passiert nicht viel in ihnen; umso mehr verführen sie einen, selber sehend in einen anderen Zustand zu geraten, ganz still außer sich zu sein. In „Marseille“ heißt dieser Zustand Einsamkeit, vielleicht noch tiefer als in Schanelecs anderen Filmen. Sophie ist ganz auf sich gestellt, kein Telefon, kein Handy, kein Laptop, mit dem sie in Kontakt zur sogenannten vertrauten Umgebung bleibt. Sie reist: Jeder Tag ist groß und fremd, wo auch immer. Unvermutet hält er eine Art Glück bereit oder eine furchtbare Erschütterung – nichts weiter als Material für den nach und nach belichteten Film, den wir Leben nennen.

Marseille ist schön, von Anfang bis Ende. Nur zwischendrin in Berlin wird einem beim Zusehen und -hören, die Leute reden auf einmal recht viel, manchmal die Zeit lang. Aber vielleicht will auch das so sein, Nahrung für die Unruhe, die Sophie wieder forttreibt in ihre neue, seltsame Herzensstadt unter sehr freiem Himmel am Meer. Maren Eggert spielt diese Sophie, ohne sie zu spielen, ein Gesicht, wie es die deutschen Romantiker geträumt hätten: große Augen, starke Nase, voller Mund, ein Gesicht wie herausgeträumt aus einem Scherenschnitt in die Farbe. Und einmal sogar lächelt es, unwiderstehlich.

fsk am Oranienplatz, Hackesche Höfe

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