zum Hauptinhalt
Er hat sich von ganz unten nach oben gearbeitet, war Vagabund und singt von dem, was er erlebt hat. Beim Berliner Konzert wird es aber auch religiös.

© Promo

Soulmusik: Öffne dein Herz

Seelenmassage: Der Soulmusiker Charles Bradley hatte erst vor zwei Jahren seinen Durchbruch, da war er schon über 60. Jetzt legt er ein bewegendes zweites Album vor, „Victim of Love“. Unser Autor hat ihn in Berlin getroffen.

Gute Soulmusik lebt von schlechten Erfahrungen. Eine Binsenwahrheit: Am Anfang stehen die Demütigungen, die Niederlagen, die Rückschläge. Mit anderen Worten: „Du musst durch die Scheiße gewandert sein, um ein guter Soulman zu werden“, sagt Charles Bradley. Seine schlechten Erfahrungen würden für zwei Soulkarrieren reichen. Elternlos aufgewachsen, hat der Sänger Jahrzehnte als Tagelöhner und Obdachloser hinter sich, vagabundierte einmal quer durch die USA von New York nach Kalifornien über Alaska und wieder zurück. Er geriet in rassistische Polizeikontrollen und fand eines Morgens seinen Bruder erschossen auf. Bradley kennt auch das Gefühl, das sich einstellt, wenn man noch sechs Dollar in der Tasche hat, das billigste Zimmer aber sieben kostet.

Von solchen Erlebnissen handeln seine Lieder. „No Time for Dreaming“ heißt der programmatische Titel seines Debütalbums, mit dem ihm vor zwei Jahren der Durchbruch gelang – mit Anfang 60. Und weil es seine Erfahrungen sind, von denen ausgehend er Fragen an das Leben stellt, heißt Bradleys neues Album denn auch „Victim Of Love“. Zum Titel beigetragen hat wohl auch das Publikum in São Paulo, erinnert sich Bradley, besonders die Zuhörerin, die sich aus Begeisterung über das Konzert in den Haaren des Sängers festkrallte, bis sich dieser schließlich befreiten konnte, um einige Haarbüschel ärmer.

Die Songs auf dem neuem Album, das diese Woche erscheint, klingen psychedelischer und verspielter als die des Debüts, wobei der Sound weiterhin an das goldene Zeitalter von Motown und Stax anknüpft. Auch inhaltlich hat sich etwas getan. „Die erste Platte kam aus der Dunkelheit, aus der Verzweiflung“, sagt Tom Brenneck, Produzent des New Yorker Daptone-Labels, Koautor und Bandleader der Menahan Street Band, mit der Bradley tourt. „Das neue Album handelt von Hoffnung und Vertrauen darauf, dass am Ende des Tunnels ein Licht ist.“

Da ist sie wieder, die grandiose Stimme, die Schreie eines Mannes, der das Singen als eine Art Therapie betreibt. Gelegentlich im Duett mit Lee Fields oder Sharon Jones, weitere Musiker des Daptone-Labels, die alle klingen wie Soul in seiner Hochzeit. Mit ihnen hat Bradley den späten Karrierefrühling gemeinsam, wobei die anderen eigene Erlebnisse weniger radikal in den Vordergrund stellen. In seinen Anfängen ließ Bradley bei Auftritten gelegentlich Textpassagen aus, weil sie ihn zu sehr mitnahmen. Aber wenn Konzerte zur Seelenmassage werden, kann das nicht nur für den Sänger reinigende Wirkung entfalten. Es erfüllt auch den Wunsch des Publikums nach Authentizität.

Ein Winterabend in Kreuzberg, ein Clubkonzert an der Spree. Bradley ist echt, ist Antipop. Das Gegenteil von Coolness. Was umso beachtlicher ist, wenn man bedenkt, dass sich sein Berliner Publikum überwiegend aus selbst erklärten Trendsettern zusammensetzt, die viel auf ihre Ironiefähigkeit und emotionale Distanziertheit halten. Bei Bradley bekommt auch der Hipster feuchte Augen und stellt sich nach dem Konzert in die Warteschlange, um von dem kleinen Mann aus New York umarmt zu werden, der viel durchgemacht hat. Dass bei seinen Konzerten Tränen fließen, überrascht ihn nicht. „Ich weine ja auch, öffne mein Herz.“ Im Internet finden sich Konzertmitschnitte, auf denen sich junge Menschen – von Bradley moderiert – auf der Bühne das Jawort geben. Bei allem Kitsch ist das immer noch turmhoch dem Plastikpop überlegen, den Stars wie Rihanna oder Beyoncé als modernen Soul verkaufen.

Dass Charles Bradley so unironisch wirkt, hat auch mit seiner Religiosität zu tun. Das Bedürfnis nach Erlösung ist zutiefst menschlich, erst recht in der Soulmusik mit ihren Wurzeln im Gospel, der streng genommen von nichts anderem handelt als von ebendieser Erlösung. „Geht in die Welt und macht Geld, aber lasst nicht zu, dass das Geld euch macht“, ruft Bradley bei seinem Berliner Konzert, das sich schon längst zur Predigt gewandelt hat. „So isses“, schreit dann ein junger Mann aus dem Publikum und teilt brüllend mit, dass auf der anderen Seite der Spree gerade die East Side Gallery für den Profit eines einzelnen Baulöwen eingerissen werden soll. So gehe es ja nicht, da habe der Sänger ganz recht.

Der jedoch kann mit derlei Lob nicht viel anfangen. Ob der junge Mann denn nicht die Liebe des allmächtigen Gottes in sich spüre, fragt er. Und bekommt zu hören, dass der liebe Gott tot sei und stattdessen jeder einzelne Mensch göttlich sei – eine typische Kreuzberger Formulierung in Religionskritik. Das wiederum geht Bradley entschieden zu weit. „Wenn du Gott bist, dann lass die Bäume wachsen und mache die Luft rein, so dass wir alle atmen können“, empfiehlt er, den Zeigefinger gen Zuschauer ausgestreckt. Ein letzter Appell an die Liebe, und dann ist Schluss. So bleibt der Mauerschutz wohl weiterhin die Sache von David Hasselhoff, Bradley hat andere Themen. Wer wollte es ihm verdenken.

„Victim Of Love“ erscheint am 5. April bei Daptone Records.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false