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Kultur: Sound von Metropolis

Sie spielen Cello, Violine und Schlagzeug, aber nicht nach Noten. Die Phirefones lassen Kinobilder klingen

Mit Angst und Verachtung beobachtet die alte Dame eine Szene, die sich wenige Meter von ihr entfernt ereignet. Ein baseballbemützter Halbstarker drückt einen blonden Rastafari-Burschen gegen eine verschmierte Hauswand und fesselt ihn mit Handschellen. Ein Dritter filmt den Vorgang mit einer Videokamera. Verstohlen riskiert die Dame einen zweiten Blick, dann rollt sie zügig mit ihrem Einkaufswagen weiter. Bloß nicht einmischen.

Herr Mux würde sich sofort einmischen. Elegant zöge er seinen Revolver, den er liebevoll „Mäuschen“ nennt, dann schnappte er sich die Kerle, so dass wieder Ordnung am Alexanderplatz herrschen würde. Leider gibt es Herrn Mux nicht. Nicht wirklich jedenfalls, sondern nur auf der Leinwand. Aber auch die drei jungen Männer sind keine Prügelknaben, sondern Musiker. Sie nennen sich Phirefones, und was wie eine Verhaftung aussieht, ist eine Szene aus „Muxmäuschenstill“, die sie nachstellen. Den Film kennen alle drei sehr gut, denn ein halbes Jahr haben sie an dem Soundtrack gearbeitet, den inzwischen mehr als 150000 Besucher von Marcus Mittermeiers Selbstjustiz-Drama gehört haben.

Das Trio hat insgesamt zehn Titel für den Film aufgenommen, entstanden ist eine moderne Großstadtsinfonie. Kompositionen sind das allerdings nicht, da die Aufnahmen mitgeschnitten wurden, während die Musiker zu den Filmbildern improvisierten. So besteht die Musik weniger aus einer Reihe loser Songs, sondern ist direkt an die jeweiligen Sequenzen angepasst und mit der Tonspur des Films verwoben. „Wir stehen im Studio vor dem Fernseher und sehen uns eine einzelne Szene immer wieder an“, erklärt Violinist Julian Boyd die Arbeitsweise der Band. „Irgendwann lassen wir uns von der Stimmung der Bilder treiben und reagieren darauf.“

Er sitzt mit seinen beiden Bandkollegen in einer Eisdiele am schöneren Ende der Brunnenstraße. Sein Handwerk hat der 38-Jährige mit den dunklen Haaren und dem konzentrierten Blick bei Oscar Sala gelernt, dem Mann, der in den Zwanzigerjahren den ersten Synthesizer der Welt erfunden hat. Mit seinem Mixtur- Trautonium, einer Mischung aus Keyboard und Geige, vertonte Sala Alfred Hitchcocks „Vögel“. Boyd und sein Bandkollege Tobias Vethake haben mehrfach mit Sala zusammengearbeitet. Unter anderem entstand dabei Musik für „Tatort“ und „Ein Fall für Zwei“; im Februar 2003 gründeten die beiden Jungmusiker dann zusammen mit dem Australier Simon Ayton die Phirefones.

Ihre musikalischen Einflüsse pendeln zwischen den Nine Inch Nails, Radiohead, kanadischen Electrosounds und Independent-Rap. Nichtsdestotrotz haben alle drei eine klassische Musikausbildung genossen und vielleicht deshalb den Ehrgeiz, nichts der Elektronik zu überlassen, sondern sämtliche Instrumente selber einzuspielen. Wobei die Stadt als Instrumenten-Fundgrube unerschöpflich ist. So kann es passieren, dass Schlagzeuger Ayton mit einer nassen Plastiktonne, die er auf der Straße gefunden hat, vor der Studiotür steht, um ihren Klang zu testen. Der 33-jährige Australier mit den blonden Dreadlocks ist auch für das Soundgerüst verantwortlich. Als gelernter Uhrmacher bastelt er lange an kleinen Details des 16-spurigen Klangbildes.

Die Technik der drei Musiker erinnert stark an das Method Acting. Genau wie Schauspieler der Strasberg-Schule nähern sich auch die Phirefones dem Plot über Identifikation und erspüren die Atmosphäre der einzelnen Szenen. Das bedeutet manchmal auch, nicht zu spielen. So wie in der Szene, in der Mux’ Weltbild ins Wanken gerät, als er die von ihm vergötterte Kira hinter einer Jahrmarktbude beim Oralverkehr ertappt. Um Kiras Auftritte zu untermalen, haben die Phirefones ihr ein eigenes Motiv zugespielt, das sie je nach Stimmungslage variieren. In dieser Einstellung klingt es düster und traurig. Zwei Einstellungen später verstummt die Musik ganz. Schweigend gehen Mux und Kira um einen See herum. Der Wind pfeift, die Blätter rauschen, bis plötzlich ein lauter Schuss die Idylle zerschneidet. Eine Hinrichtung. „Wir begleiten den Zuschauer in dieser Szene bis zu einem bestimmten Punkt, dann lassen wir ihn alleine“, sagt Tobias Vethake.

Wenn Vethake seine Musik charakterisieren darf, fangen die blauen Augen des 29-jährigen Cellisten an zu leuchten. Er dreht seine Baseballmütze um seinen Kopf herum und schwärmt: „Berlin klingt vielschichtig und rebellisch, flexibel und vereinnahmend – die Leute sprechen auf eine besondere Art, überall hört man Geräusche von Zügen und Autos – das ist der Sound von Metropolis.“ Die Begeisterung eines Neu-Berliners, der sich in Neukölln angesiedelt hat, um der Enge seiner Gütersloher Heimat zu entfliehen.

Auch Julian Boyd ist erst vor drei Jahren aus Hamburg an die Spree gezogen. Und so zimmern die Phirefones seit anderthalb Jahren aus der alltäglichen Geräuschcollage der Großstadt ihre komplexen Soundgebilde.

Obwohl sie noch nie einen Auftritt absolviert oder eine Platte aufgenommen haben, sind sie in der kurzen Zeit weit gekommen. Im letzten Jahr trafen sie den ehemaligen Fassbinder-Schnittmeister Galip Iyitanir auf dem „Berlinale Talent Campus“. Der beauftragte sie damit, seinen Film „Olga Benario“ zu vertonen und empfahl sie an den amerikanischen Regisseur Nadav Kurtz weiter, der dringend Musik für seinen Kurzfilm „Wrecker“ suchte. Die Phirefones verschickten ihre musikalischen Vorschläge übers Internet und wurden zur Endmischung in die USA eingeladen – auf George Lucas „Skywalker Ranch“. Ein Traum für die junge Band.

Die ist noch ein wenig überrascht von der enormen Resonanz. Normalerweise stehen Filmmusiker nämlich im Schatten des Glamours, den die Leinwand und jene, die auf ihr größer als das Leben werden, ausstrahlen. Doch für die Phirefones soll sich das bald ändern: Zur PopKomm Ende September planen sie ihre ersten beiden Live-Auftritte. Dann gehört ihnen auch das Rampenlicht.

Phirefones: „Muxmäuschenstill – Advanced Original Soundtrack“. Am 29.8. wird der Kurzfilm „Crossing“ in den Hackeschen Höfen gezeigt. Infos unter: www.phirefones.com

Mikko Stübner

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