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© Staatsschauspiel_Dresden

Sozialstaat: Deutschland Transfer

Es ist Wahlkampf und keiner hört hin: Die Krise der SPD ist die Krise des Sozialstaats. Warum die Volkspartei ihren Rückhalt in der Bevölkerung verloren hat.

Es ist Wahlkampf und keiner hört hin – unter diesem Motto scheint die SPD-Wahlkampagne zu stehen. Fast gespenstisch rotiert der Herausforderer mit erhöhtem Einsatz und Lautstärke im Leeren. Aber eigentlich müsste es ja die historische Stunde der Sozialdemokratie sein. Die Fanfare des Aufbruchs, jenes Wannwenn-nicht-jetzt und Wer-wenn-nichtwir müsste nun erklingen: Die globale Finanzkrise hat den neoliberalen Gegner erledigt, und während in den USA Menschen Haus und Existenz verloren, erfuhr der deutsche Sozialstaat mit seinen sozialen Garantien eine grandiose Bestätigung. Er erweist sich als finanzkrisenresistent. Und da unser Sozialstaat vom sozialdemokratischen Weltbild geprägt ist, müsste auch die SPD davon profitieren.

Müsste sie nicht, wie Willy Brandt bei seinem Moskaubesuch im September 1989, verkünden, dass nun nicht nur der sozialdemokratische Gedanke zur Wirklichkeit dränge, sondern auch die Wirklichkeit zum sozialdemokratischen Gedanken? Vielleicht ist das im Zeichen der Weltwirtschaftskrise tatsächlich der Fall, zur SPD drängt gleichwohl nichts.

Für die Öffentlichkeit hat das Ende der Volksparteien begonnen, ausgerechnet die SPD ist ihr erstes Opfer. Das 20-Prozent-Ghetto droht. Die Konstanz des Umfragetiefs zeigt, dass es nicht nur um die Tagesform der SPD geht. Es liegt nicht nur an der Beißhemmung von Steinmeier, an dessen müdem Schröder-Plagiat ohne die demagogische Wucht des Vorbilds und nicht nur an Münteferings Müntefering-Kopie. Warum um Himmels willen ist ausgerechnet Freiherr zu Guttenberg so beliebt, obwohl er uradelig, reich und gestylt ist und auch noch Platon im Original lesen kann? Zwischen dem Wähler und der SPD stimmt es offenbar im Grundsätzlichen nicht mehr.

Denn das Selbstverständnis einer großen Mehrheit in Deutschland kann man nach wie vor sozialdemokratisch nennen. Die meisten gehen davon aus, dass es der Staat ist, der für soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit (bis zu einem gewissen Grad) und Umverteilung (in Maßen) um des lieben sozialen Friedens willen sorgen muss. Zugang zur Bildung, garantierte medizinische Versorgung und sichere Renten müssen staatliche Aufgaben sein. Dabei sind die Nutznießer des Sozialstaates so strukturkonservativ gesinnt wie die Sozialstaatspartei SPD. Warum also kann sie von dieser Identität nicht profitieren?

Könnte es sein, dass die Identifikation mit dem Sozialstaat komplizierter und widersprüchlicher ist, als es der sozialdemokratische Diskurs wahrhaben will? Mischen sich in diese Identifikation mehr Zweifel, als auf einem SPD-Parteitag erlaubt sind? Der gewöhnlich intellektuell unterschätzte Stammtisch fragt sich sehr wohl, wie der Sozialstaat in Zukunft finanziert werden soll. Er kennt die Demografie und weiß, dass die Staatsverschuldung wachsen muss, sollen die Sozialstandards erhalten werden.

Ohnehin ist die staatlich verfasste Solidarität ein merkwürdig Ding: Gegenüber dem Sozialstaat teilt sich der Mensch in den Klienten, der nimmt, was ihm zusteht, und in den Steuerzahler, der allen anderen tendenziell unterstellt, dass sie den Sozialstaat missbrauchen. Diese prinzipielle Ambivalenz des Sozialstaatsbürgers ist unvermeidlich. Akut wird sie, wenn die Finanzierungskrise ins öffentliche Bewusstsein drängt und gleichzeitig Zweifel am Sinn und an der Wirkung sozialer Leistungen wachsen.

Es war Gerhard Schröder, der im Frühjahr 2005 bei seiner unermüdlichen Verteidigung der Hartz-Reformen immer erwähnte, man müsse „ auch über die problematischen Folgen sozialer Leistungen reden“. Er beließ es bei der Andeutung, aber sie genügte, um für einen Moment den gewerkschaftlichen Trillerpfeifenlärm verstummen zu lassen. Eine Debatte in der Partei folgte ebenso wenig wie eine sorgfältige Analyse der Hartz-Reformen.

Dabei schwant auch der SPD, dass die Transferleistungen fragwürdige gesellschaftliche Folgen haben. Sozialmissbrauch wird auch auf Parteitagen beklagt – und schnell mit dem Ruf nach mehr Kontrollen abgewehrt. Dennoch weiß jeder um die Existenz einer Unterschichtkultur – die so zu nennen tabu ist –, in der es Eltern gibt, die sich gar nicht mehr anstrengen, damit es ihren Kindern einmal besser geht. Die Anzahl der Familien wächst, die in dritter Generation vom Transfer leben. Wenn viele von ihnen ihre Energie und ihr Erfahrungswissen darauf verwenden, so viel Staatsknete wie möglich abzugreifen, handelt es sich nicht um Missbrauch, sondern um systemkonformes Verhalten.

Dabei konterkariert eine Transferleistung die andere. So wird einerseits die „bildungsferne Schicht“ in einer Weise finanziert, die die Motivation für all die neuen Bildungsangebote unterminiert, deren Kosten der Sozialstaat ebenfalls trägt. Die Politik handelte immer so, als ob ein Katalog von Sozialleistungen linear eine entsprechende Liste von sozialen Problemen löst. Aber das Sozialsystem reagiert wie ein ökologisches System, bei dem jede Intervention systemische Folgen an anderen Stellen provoziert. So hebelt die Finanzierung von „Bedarfgemeinschaften“ nach Hartz IV die familiären Bindungen aus, die wiederum die Familienpolitik unterstützt. Umso verhängnisvoller ist die gesetzliche Verankerung: Leistungsgesetze sind irreversibel.

Der öffentlichen Wahrnehmung entgeht keineswegs, dass der Sozialstaat immer teurer und undurchsichtiger wird und widersprüchliche Effekte zeitigt.Paradoxerweise wird der damit einhergehende Legitimationsverlust durch das sozialpolitische Expertenwesen noch verschärft. Sozialwissenschaften, Wohlfahrtsverbände, Enquetekommissionen, Stadtsoziologen und Gewerkschaften arbeiten, um Sozialforderungen zu begründen. Regelmäßig wie die Erinnerung an das Waldsterben wird die wachsende Armut, werden Kinder- und Altersarmut nachgewiesen. Da unser Armutsbegriff relativ ist, gibt es eine Zunahme an Armut nicht trotz, sondern wegen des steigenden Lebensstandards. Und nur ein altersgrimmiger Helmut Schmidt darf knurren, dass es den heutigen Armen besser geht als den Facharbeitern zu seiner Zeit.

Das Bild, das die Armutsforscher auf Dauer installieren, ist verheerend: Die Armut wächst, obwohl der Sozialstaat immer teurer wird. Mithin scheitert er. Es soll hier keine einfache Korrelation zwischen dem Umfragetief der SPD und dem Glaubwürdigkeitsverlust des Sozialstaats aufgestellt werden. Aber es ist offensichtlich, dass die Sozialstaatspartei von der wachsenden Ambivalenz der Bevölkerung gegenüber dem Sozialstaat infiziert ist.

Es gehört zur sozialdemokratischen Tragik, dass sie in der Krise das authentisch Sozialdemokratische sucht und immer nur bei der Linken zu finden meint. Aber die kreisen, um Herbert Wehner zu zitieren, um das Mehr „wie die Ziege um den Pflock“: mehr Transfer (Vermögenssteuer etc.), mehr Arbeitslosengeld 2, mehr Bildungsinvestitionen. Die Linke klopft sich stolz auf die Schulter,weil sie die Schröder-Erbschaft aus der Partei verbannt hat. Dabei steht Schröder für den einzigen ernsthaften Versuch, sich den sozialstaatlichen Problemen zu stellen.

Sein Programm vom „aktivierenden Staat“, vom Fordern und Fördern war allerdings nicht von politischer Fortune begleitet. In seiner ersten Legislatur scheiterte er mit dem Schröder-Blair-Papier; die Hartz-Reformen in der zweiten Amtszeit waren von Hast, faulen Kompromissen und technischen Fehlern so sehr geprägt, dass sie zum Trauma der Partei wurden. Im Grunde sind es unvollendete Reformen. Aber wenn die SPD sich nun darauf verständigt, die Hartz-Episode zu verdrängen, dann liefert sie sich ohnmächtig der doppelten Krise aus: der Krise der Partei und der des Sozialstaats.

Je mehr die beunruhigende Dimension der Sozialstaatskrise, die eben nicht nur eine Finanzkrise ist, von der SPD ausgeblendet wird, desto weniger Zukunft verbürgt sie. Bislang gab es eine unausgesprochene Bindung der besserverdienenden und sozial engagierten Akademiker an die Sozialdemokratie. In deren Augen repräsentierte die Partei die Seite der Guten und den Anspruch auf eine bessere Gesellschaft. Diese Bindung zerfällt. Denn der Zirkel der Realitätsverleugnung treibt die Sozialdemokratie in einen Totalverlust jener gesellschaftspolitischen Ansprüche.

Warum eigentlich wäre es unsozialdemokratisch, wenn man für ein lernendes flexibles Sozialsystem eintritt und Sozialleistungen grundsätzlich auf ihre gesellschaftlichen Folgen überprüft? Wäre es nicht sinnvoll, Sozialstandards immer wieder infrage zu stellen? Sollten soziale Leistungsgesetze nicht mit einem Verfallsdatum versehen und in jeder Legislaturperiode im Parlament neu debattiert werden? Dann hätten auch die Sozialwissenschaften einen Anreiz, die Wirkungen von Sozialleistungen zu erforschen, statt immer nur Beihilfe zu immer mehr Forderungen an den Sozialstaat zu leisten.

Nützt der SPD auf Dauer das stumpfsinnige Gerede von den starken Schultern, die mehr tragen müssen? In den 80er Jahren wollte Ingrid Matthäus-Maier alle fälligen Sozialprogramme mit dem eingesparten Jäger 90 finanzieren. Was damals der Jäger 90 war, sind heute die starken Schultern, die obendrein mehr leisten. Zwanzig Prozent der sogenannten Besserverdienenden tragen zwei Drittel des Haushalts, dazu gehören eben auch die gut verdienenden Facharbeiter. Könnte also Steuergerechtigkeit und Steuerangemessenheit ein zentrales sozialdemokratisches Thema sein, ein Thema der sozialen Gerechtigkeit? Müsste die Partei nicht ebenso deutlich auf der Seite des Steuerzahlers stehen, wie sie auf der Seite des Sozialstaatsklienten steht?

Können solche Überlegungen nützen, können sie der SPD helfen? Natürlich werden damit tausend Fragen aufgerührt, und es wäre Selbstmord auf offener Bühne, diese Fragen in Wahlkampfzeiten offen anzusprechen. Aber – und das ist das Dilemma der SPD – die Alternative des Beschweigens, Tabuisierens und sich dagegen Immunisierens ist genauso tödlich. Vielleicht raffen sich die 46 Prozent Nichtwähler mit SPD-Neigung auf und gehen doch wählen, weil sie die Volkspartei SPD retten wollen. Aber ohne Sozialstaatsreform wird die Sozialstaatspartei nicht überleben.

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