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Kultur: Spiele ohne Grenzen

Peter-André Alt entwirft eine „Ästhetik des Bösen“

Mit einer „Ästhetik des Bösen“ assoziiert man heute Phänomene aus dem Bereich der Popkultur: Splatter-Filme, Hardcore-Pornografie, Killer-Spiele auf dem Computer oder Videoclips von Heavy-Metal-Bands wie „Rammstein“. Doch weil Peter-André Alt Professor für Literaturwissenschaft an der FU Berlin (und seit letzten Sommer deren Präsident ) ist, hat er sich in seiner Studie auf die Literatur beschränkt, und zwar durchweg auf deren Höhenkamm.

Auf 700 Seiten spannt er den Bogen vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Er wirft einen Blick auf Goethes „Faust“ und Schillers „Räuber“, katalogisiert die schwarze Romantik von William Blake und Edgar Allan Poe, Mary Shelley und E. T. A. Hoffmann, widmet sich den Orgien in den Romanen des Marquis de Sade und den „Blumen des Bösen“ in den Gedichten von Charles Baudelaire, begutachtet den Fin-de-siècle-Ästhetizismus von Oscar Wilde und Joris-Karl Huysmans, streift die „heilige Pornografie“ bei Georges Bataille und Jean Genet und die Ästhetik des Schreckens in der Kriegsliteratur von Ernst Jünger und Curzio Malaparte und vergisst auch die zeitgenössischen Skandalromane von Bret Easton Ellis und Jonathan Littell nicht. Alles in allem also eine Studie mit nahezu enzyklopädischem Anspruch, an der ihr Verfasser nach eigenem Eingeständnis sieben Jahre lang gearbeitet hat.

Aber gelingt es ihr auch, die Fülle der Einzelbeobachtungen zu einer Theorie zu verdichten, die uns erklärt, worin die Besonderheit einer „Ästhetik des Bösen“ besteht? Alt versteht sein Verfahren als ein beobachtendes, das wie in Edmund Husserls phänomenologischer Einstellung auf dem Prinzip der Urteilsenthaltung beruht: „an den Platz von Wertungen und Begriffsbestimmungen tritt die Beschreibung der Phänomene, in denen das Böse als literarisches Ereignis manifest wird“. Damit sind die Leistungsfähigkeit wie auch die Grenzen von Alts Ansatz vorgezeichnet. Denn kann man aus einer neutral-distanzierten Perspektive über eine Ästhetik des Bösen schreiben, ohne selbst zum Problem des Bösen Stellung zu nehmen?

Alt geht davon aus, dass um 1800 mit Kants „Kritik der Urteilskraft“ und der frühromantischen Poetik von Friedrich Schlegel eine Autonomieästhetik begründet wurde, die „Kunst als von religiösen, sittlichen und juristischen Regeln unabhängige Instanz zu erfassen sucht“. Ästhetische Autonomie im radikalen Sinne schließt „zwangsläufig die Abkehr von der moralischen Selbstbindung künstlerischer Praxis ein“. Die Ästhetik des Bösen ist also ein Kind der literarischen Moderne. Indem die moderne Literatur seit 1800 bewusst Tabus verletzt, das Hässliche, Obszöne, Schreckliche und Gewalttätige zur Darstellung bringt, beweist sie sich selbst immer wieder neu die Autonomie der literarischen Einbildungskraft.

Mit dieser These schließt Alt an Karl Heinz Bohrer an, der dieses Autonomieprogramm in seinen Schriften in immer neuen Anläufen gegen den in Deutschland herrschenden Moralismus verteidigt hat. Anders als Bohrer hält Alt diese Autonomie jedoch letztlich für eine Illusion. Die Lust an der Tabuverletzung, aus der sich die Ästhetik des Bösen speist, bleibt nämlich gebunden an das, was verletzt wird: „Die Programmatik der Grenzverletzung wird durch die Grenze bestimmt, die sie einreißt; das ist der paradoxe Zirkel, in dem sich die böse Literatur seit der Romantik bewegt“. Alt kann das an den blasphemischen Orgien von de Sade zeigen, deren Schändung des Heiligen eben dieses Heilige voraussetzt.

Alt begreift das Böse der modernen Literatur als Produkt einer ästhetischen Inszenierung, das durch bestimmte Schreibstrategien überhaupt erst hergestellt wird. Die Darstellung von bösen Figuren oder Handlungen in der Literatur wie etwa in Dostojewskis „Bösen Geistern“ erzeugt noch keine Ästhetik des Bösen. Von dieser kann man vielmehr erst dann reden, wenn das Böse auf eine Weise beschrieben wird, dass beim Leser die moralischen Urteilskriterien außer Kraft gesetzt werden und er bei der Lektüre mit den im Text stattfindenden Tabubrüchen zu sympathisieren beginnt.

Damit entscheidet sich Alt allerdings für eine Kunsttheorie, die nicht mehr, wie noch Hegel, Benjamin oder Adorno, nach dem „Wahrheitsgehalt“ eines Kunstwerks fragt, sondern nur noch nach dem „Wie“ seiner formalen Konstruktion. Kein Wunder denn auch, dass er von Jonathan Littells Naziporno „Die Wohlgesinnten“ fasziniert ist, weil er an ihm sämtliche literarische Strategien einer Ästhetik des Bösen demonstrieren kann. Die Frage dagegen, ob das Buch auch „wahr“ ist, stellt sich ihm gar nicht mehr.

Peter-André Alt:

Ästhetik des Bösen. Verlag C. H. Beck, München 2010.

720 Seiten, 34 €.

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