zum Hauptinhalt
Foto: akg-images/Bruni Meya

© picture-alliance / akg-images

Kultur: Sprache, Suche, Sucht

Zum 80. Geburtstag des Dichters Jürgen Becker.

Um mit der Popsängerin Madonna zu sprechen, handelt es sich bei Jürgen Becker um eine Art „Material Boy“ der deutschen Gegenwartsliteratur. Eine Bezeichnung, die der soeben erschienene Band „Wie es weiterging“ rechtfertigt, ein „Durchgang – Prosa aus fünf Jahrzehnten“ (Suhrkamp, 295 Seiten, 21,95 €): eindrucksvoll und unaufdringlich, wie immer bei diesem Feinmechaniker der Sprache, dessen Satzmelodie süchtig machen kann. Kein Geringerer als sein rheinischer Landsmann Heinrich Böll rezensierte 1964 Beckers Debüt „Felder“, was einem Ritterschlag gleichkam.

Atemlos beginnt der Text mit den Worten „wie weiter, was sprechen“, einer Suchbewegung, die sein Schreiben beharrlich prägt. „Vielleicht wird man einmal von ‚literarischem Materialismus’ sprechen“, prophezeite der Literaturkritiker Heinrich Vormweg in Bezug auf das von Klaus Schöning 1969 herausgegebene Suhrkamp-Standardwerk „Neues Hörspiel – Texte, Partituren“: „Es handelt sich um den Versuch, unbekannte, weil unbenannte Erfahrungen als ein Material, das nur schwer ‚sauber’ zu gewinnen ist, heranzuholen – durch nach Kräften auf sich selbst reduzierte Form.“

Neben Friederike Mayröcker, Mauricio Kagel, Wolf Wondratschek oder Max Bense war der damals 36-Jährige, der fast 20 Jahre lang das Hörspiel beim Deutschlandfunk leitete, in „Neues Hörspiel“ mit „Häuser“ vertreten. Damit bekräftigte er seine Nähe zu den Theoremen der Konkreten Poesie. Ähnlich wie das Fotografenpaar Bernd und Hilla Becher mit seinen Häuser-Fotografien in strengem Schwarzweiß die Gebäude selbst zum Sprechen bringt, soll der Hörer von „Häuser“ einen Zusammenhang zwischen Hauswart, Hausfriedensbruch, Kaufhaus, Hausfrauen und Hausfreunden herstellen: „Die Stimmen artikulieren die Umgebung, in der wir uns eingerichtet haben, der wir täglich ausgesetzt sind, die unsere Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Illusionen, Erinnerungen, Konflikte, Entfremdungen, Aggressionen, Sentimentalitäten, unsere Art zu leben bestimmt.“

Beckers Texte sprechen eine unablässige Einladung zur Mitarbeit aus, selbst wo sie sich dagegen abzuschotten drohen wie im Journalband „Im Radio das Meer“ (2009). „Züge fahren neben der Autobahn her“, heißt es darin in Beckers lapidarem Ton. Doch so sehr das Rheinland seine Wahrnehmung geprägt hat, es gab auch Erfurt, wo die Familie von 1939 bis 1950 lebte. Das Wissen, dass von diesen thüringischen „Geschichten so gut wie gar nichts erzählt ist“, trieb ihn um. 1999 schließlich reflektierte er die verdrängten ostdeutschen Jahre in dem Roman „Aus der Geschichte der Trennungen“, der als exemplarische Annäherung an die deutsch-deutsche Geschichte gelobt wurde. Stets ist der Produktionsprozess selbst sein Thema: „Ich weiß heute nicht, wie es morgen mit dem Schreiben weitergeht, und im Nachhinein wundert es mich, dass dieser Zustand des Nichtwissens, des Wartens, fünf Jahrzehnte angedauert hat“, kommentiert Jürgen Becker sein Werk. In Odenthal im Bergischen Land feiert Jürgen Becker heute seinen 80. Geburtstag. Katrin Hillgruber

Zur Startseite