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Kultur: Sprengel-Museum Hannover: Schnell ist schön

Die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts war ungemein reich an literarischen Texten.

Die Moderne des frühen 20. Jahrhunderts war ungemein reich an literarischen Texten. Die Aufrufe und Manifeste der verschiedenen "-ismen", wie die Vielzahl der Richtungen bereits in den zwanziger Jahren genannt wurde, jagten einander und suchten sich an Radikalität zu überbieten. Die Krone gebürt zweifellos dem italienischen Futurismus. Zwar besaß die neue Strömung in Filippo Tommaso Marinetti einen wortgewaltigen Propagandisten. Doch die verschiedenen Gruppen, in die sich der Futurismus auffächerte, sprachen durchaus nicht allein mit seiner Stimme. Ein dichtes Gewebe von Manifesten markiert die Positionen zwischen 1909 und dem Kriegseintritt Italiens im Mai 1915. Dass "ein Rennwagen" schöner sei "als die Nike von Samothrake", diese (verkürzte) Formulierung Marinettis ist zum Synonym für die Ideen des Futurismus geworden.

Warum Hannover?

"Wir erklären, dass der Glanz der Welt sich um eine neue Schönheit bereichert hat: um die Schönheit der Schnelligkeit", heißt es im Gründungsmanifest des Futurismus, das Marinatti am 20. Februar 1909 veröffentlicht hat - nicht in Mailand oder gar Rom, sondern auf der Titelseite der Pariser Tageszeitung "Le Figaro". Einen solchen Coup hat keine andere Künstlergruppe mehr landen können. So, wie sie die Geschwindigkeit, ja den Rausch der Geschwindigkeit besangen, traten die Futuristen schlagartig auf die Bühne der Moderne.

Was neben solchen Texten an Kunst entstand, hat das Sprengel Museum Hannover jetzt zusammengetragen, so umfassend, wie der Futurismus in Deutschland zuletzt allenfalls 1974 - in der Kunsthalle Düsseldorf - zu besichtigen war. Diesen Umstand streicht auch das Vorwort des begleitenden, als Handbuch in deutscher Sprache zukünftig unentbehrlichen Katalogs heraus. Die "Gründe für dieses mangelnde Interesse" in dem "entscheidenen Kampf, den die Futuristen insbesondere gegen die deutsche Kunst und Kultur geführt haben", als auch in "deren betont nationalistischer Haltung" zu suchen, führt allerdings in die Irre.

Die tatsächlichen Gründe sind prosaischer. Noch immer behandeln die italienischen Museen das 20. Jahrhundert stiefmütterlich, und so befindet sich ein Gutteil der futuristischen Kunstwerke unverändert in italienischem Privatbesitz. Die strenge Ausfuhrgesetzgebung Italiens einerseits, vor allem aber die Abneigung von Sammlern, den Fiskus über den wahren Wert ihrer Schätze in Kenntnis zu setzen, sind weit wichtigere Hürden. Als das vom Fiat-Konzern in Venedig betriebene Ausstellungshaus Palazzo Grassi 1986 eröffnete, geschah dies nicht ohne Grund mit der überwältigenden Ausstellung "Futurismus - Futurismen": Sie konnte mit einer Fülle nie zuvor gesehener Privatschätze brillieren. Es zeichnet die Hannoveraner Ausstellung aus, dass sie - dank umfänglicher Kooperation mit italienischen Institutionen - die Ausleihprobleme respektabel gemeistert hat, auch wenn unter den bekannten Hauptwerken große Lücken klaffen. Dass die Ausstellung im Herbst nach Rom übernommen wird, darf insofern als Gütesiegel gelten.

Warum Hannover? Das Sprengel Museum besitzt dank der Weitsicht seines namengebenden Sammlers und Hauptmäzens in Umberto Boccionis "Die Straße dringt ins Haus" von 1911 eines der Schlüsselwerke des Futurismus. Es stand bereits 1983 im Mittelpunkt der in Mailand erarbeiteten und dann nach Hannover übernommenen Ausstellung "Boccioni und Mailand", an die die jetzige Veranstaltung anknüpfen kann. Sie wirkt auf den ersten Blick, ungeachtet ihrer 410 Objekte, durchaus überschaubar. Es genügt der große Saal des Museums, eine ganze Kunstrichtung der Moderne vorzustellen. Die Formate der Futuristen waren eher gemäßigt; und die Hannoveraner Auswahl muss sich darunter auf kleine Formate beschränken, abgesehen von Carlo Carràs berühmten "Begräbnis des Anarchisten Galli" von 1911 aus dem New Yorker Museum of Modern Art (das die vorzüglichste Futurismus-Kollektion eines Museums überhaupt besitzt). Das ist durchaus kein Mangel, sind im Sprengel Museum doch vielfach Vorstudien und begleitende Arbeiten zu sehen, die einzelne Hauptwerke des Futurismus umkreisen und deutlich machen, ein wie präziser und schrittweiser Prozess die Herausarbeitung des futuristischen Vokabulars war.

Denn zwischen der Forderung nach unbedingter Modernität, nach Geschwindigkeit und Technik, und deren Umsetzung auf der Leinwand lag ein weiter Weg, den die gezeigten Werke durchaus nicht verhehlen. Giacomo Ballas Studien zu einem fahrenden Automobil aus dem Jahr 1913 machen die Schwierigkeit, die Bewegung, zugleich aber die Wahrnehmung dieser Bewegung in ein statisches Bild zu setzen, hervorragend anschaulich. Die Bewegungsfotografie, die der Franzose Marey und der Amerikaner Muybridge mehr als dreißig Jahre zuvor entwickelt hatten, findet bei den Futuristen intensive Beachtung.

Nicht allein bei ihnen: Es kennzeichnet die europäische Moderne der Vorkriegszeit bis 1914, dass sie überaus eng miteinander verflochten ist. Der Hannoveraner Katalog - überwiegend von italienischen Spezialisten erarbeitet - pocht leider auf die Eigenständigkeit und Einzigartigkeit des Futurismus, statt dieses Beziehungsgeflecht vorurteilsfrei zu sezieren. Immerhin erlebte der Futurismus seinen Durchbruch in Paris, ehe er, nicht zuletzt in Berlin, zum europäischen Ereignis wurde.

Die Bilder sprechen ja für sich. Natürlich wird der Pariser Kubismus verarbeitet, teils auch kopiert; dann wiederum wächst der expressive Anteil, den die Künstler der deutschen "Brücke" sowohl vorformuliert hatten als auch begierig aufsogen. Dann treten abstrakte und konstruktive Tendenzen hinzu, ehe sich der "zweite Futurismus" in eher dekorativer Weise mit den Zielen des Faschismus arrangiert.

Diese letztgenannte Entwicklung allerdings lässt die Hannoveraner Ausstellung aus. Sie schottet sich stattdessen mit dem Schlussdatum 1918 gegen die Gretchenfrage nach der politischen Verstrickung ab. Dabei zeigt die Rhetorik der Futuristen ihre Verwandtschaft zu den Parolen, mit denen Ex-Sozialist Mussolini seinen Aufstieg zum "Duce" garniert. "Wir wollen den Krieg verherrlichen, diese einzige Hygiene der Welt", tönte Marinetti 1909, "den Militarismus, den Patriotismus, die Vernichtungstat der Anarchie, die schönen Ideen, für die man stirbt ..." Die "schönen Ideen" fanden im Irredentismus, der Bewegung zur Rückgewinnung der unter habsburgischer Hoheit noch "unerlösten" italienischen Gebiete, ihre konkrete Ausformung. Die in einer dichten, wohl noch nie zuvor so präzise zusammengestellten Abteilung zum Futurismus im Ersten Weltkrieg gezeigten Arbeiten, die stärker als zuvor bildende Kunst und Literatur vereinen, belegen den zunehmenden Chauvinismus. Sie machen zugleich deutlich, wie stark sich der Futurismus der industriellen Rückständigkeit Italiens verdankt - als ein überschießendes Modernisierungsverlangen, das in der Kunst des frühen Sowjetrussland eine bezeichnende Parallele fand.

Darum Hannover!

In Hannover wird deutlich, wie vielfältig der Futurimus stilistisch war. Weder über die Thematik noch über seine Stilmittel lässt sich diese Bewegung eindeutig fassen. Es ist gerade die Unterschiedlichkeit der einzelnen Positionen, die den gemeinsamen Nenner bildet. Wenn die Hannoversche Ausstellung gleichwohl Dichte und Kohärenz ausstrahlt, so, weil die Werke der Futuristen die brodelnde Unruhe des frühen 20. Jahrhunderts zuspitzen: auf eine Moderne, die sich noch gänzlich naiv auf die Umwälzung der Technik und die dramatische Veränderung der menschlichen Wahrnehmung beziehen konnte, ohne von der Kehrseite solchen Wandels etwas wissen zu wollen. Die Kehrseite der futuristischen Kunst allerdings ist ihre Zeitlichkeit, die sich mit leiser Melancholie über die so lautstark ins damalige Heute drängenden Bildideen legt. Historisch zu werden, blieb auch Marinetti & Co. nicht erspart.

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