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Seltsame Komödien: Anja Hillings „Bulbus“ und Igor Bauersimas „Boulevard Sevastopol“ in Wien

Die Grenze zwischen Realität und Fiktion erscheint oftmals beunruhigend durchlässig. Gleichzeitig liegt gerade in der Brüchigkeit dieser nur vermeintlich trennbaren Welten die Hoffnung, im Er- Finden von Geschichten die eigene Identität im Hier und Jetzt zu verwurzeln. Zwei Uraufführungen des Wiener Burgtheaters drehen sich jetzt thematisch um den Versuch zweier Liebespaare, sich im Erzählen näher zu kommen.

In Anja Hillings Stück „Bulbus“ sind es erlebte Traumata, die die Menschen vereinsamen lassen. In Igor Bauersimas „Boulevard Sevastopol“ sind es die virtuelle Welt des Internets und das Schicksal der Emigration, die die Protagonisten trennen: Die junge Russin Anna prostituiert sich im Netz, um ihre Schlepperschulden abzuarbeiten und verliebt sich in einen unbekannten Kunden. Als Großprojektion auf der leeren Bühne des Akademietheaters flirtet Dorothee Hartinger mit ihrem unsichtbaren Gegenüber.

Bauersima – Autor (mit Réjane Desvignes), Regisseur und Bühnenbildner – entwirft das karge Ambiente einer russischen Emigrantengemeinschaft. Anna schnippt mit den Fingern, und die Figuren beginnen zu sprechen. Die herrische Dascha (Libgart Schwarz) gängelt ihren Mann (Florentin Groll), während sich der mafiose Georgji (Juergen Maurer) und der deprimierte Pjotr (Johannes Krisch) über ihr Emigrantenschicksal in den Haaren liegen und Sveta (Petra Morzé) und Larissa (Alexandra Henkel) schlichtend eingreifen. Lev (Markus Meyer), der Geldeintreiber des Schleppers, entpuppt sich schließlich als Annas Internetfreund und verspielt ihre Liebe.

Eine originelle Idee in einem konventionell gezimmerten Stück, das an einem brisanten Thema allzu seicht vorbeiplätschert. Leider besorgt der Regisseur Bauersima seiner „merkwürdigen Komödie“ weder einen Rhythmus noch jenen tragischen Unterton, der aus diesen Lügengespinsten dringen müsste. Ratlos steht auch Daniela Kranz der zweiten Uraufführungsinszenierung im Kasino des Burgtheaters gegenüber: „Bulbus“, ein präzise gearbeiteter Text von Anja Hilling, ein Krimipuzzle, eine Liebesgeschichte und ein Drama über die heilende Kraft des Erzählens. Lustlos und bar jeder Ironie verdeckt Kranz’ platter Bühnen-Naturalismus die poetische Sprachkraft dieses metaphorischen Dramas.

„Bulbus“ ist das jüngste von fünf bereits veröffentlichten Stücken von Anja Hilling, die 2005 zur „Nachwuchsdramatikerin“ gekürt wurde. Wie immer ließ sich Hilling literarisch inspirieren: Alfred Komareks Krimis aus dem österreichischen Weinviertel bilden den klaustrophoben Urgrund von „Bulbus“, einem Dorf am Fuße eines Berges. Isoliert von der Außenwelt hausen dessen schrullige Bewohner wie in einer geschlossenen Anstalt. Die Ladenbesitzerin Jutta Schratz (Hilke Ruttner) und der alte Markidis (Michael Gempart), die Dorfpolizistin (Sylvia Lukan) und der Pensionsbesitzer Albert Ross (Hermann Scheidleder) geraten in ihrer trägen Idylle in Unruhe, als plötzlich zwei ungebetene Gäste auftauchen: Amalthea (Nicola Krisch) und Manuel (Michael Masula als Reporter).

In Puzzleteilen fügt sich die Geschichte zusammen, die Biografien des jungen Paares sind mit jenen der Dorfbewohner verbunden: Jutta ist die Mutter von Amalthea, die einst bei Ikea ausgesetzt wurde; Albert war mit Manuels Eltern in einer linksradikalen Terrorgruppe und indirekt schuld an deren Selbstmord. Die Elterngeneration wird von ihrer Vergangenheit eingeholt.

„Bulbus“ ist der lateinische Name für Zwiebel und die medizinische Bezeichnung für den Glaskörper des Auges. Anstelle tiefenpsychologisch ausgeleuchteter Charaktere und einer linearen Erzählweise bietet Hilling eine musikalisch gebaute Folge loser Einzelszenen, die sich wie die Schalen einer Zwiebel um eine leere Mitte legen, in der metaphorisch-utopisch das Sprechen als Akt des Überlebens steht.

Im Einheitsbühnenbild einer Eisstockbahn (Ausstattung: Bettina Kraus) bleiben sechs redlich sich mühende Schauspieler an der Oberfläche ihrer Figuren, mit deren Sprache die Regisseurin nichts anzufangen weiß. Sie entlockt dem Stück weder Bösartigkeiten noch die existenzielle Notwendigkeit des Sprechens. So bleibt auch Michael Masulas Manuel unglaubwürdig in seinem Bemühen um Amalthea, obwohl für Hilling die Liebe als Ausweg aus der Isolation steht: gelungene Kommunikation als utopische Rettung einer gefühlsvereisten und schuldverstrickten Gesellschaft.

Christina Kaindl-Hönig

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