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Kultur: Spring gegen die Scheibe, Jenny

Hannah Herzsprung wird mit ihren Filmen „Vier Minuten“ und „Das wahre Leben“ über Nacht zum Star

Viele Szenen sind der Hammer in Chris Kraus’ Film „Vier Minuten“, diese aber ist es ganz besonders – so umwerfend, dass laut Presseheft sogar den ausgebufften Stuntmen „ganz mulmig“ dabei geworden ist. Hannah Herzsprung als wilde Knastinsassin Jenny hat sich durch einen Faustschlag in den Spiegel verletzt und soll nun im Krankenhaus – als Set dient der 10. Stock eines Mannheimer Bürogebäudes – behandelt werden. Sie versucht zu fliehen, wird von Richy Müller verfolgt, der den Obervollzugsbeamten Kowalski spielt, nimmt ein paar schnelle Schritte Anlauf und springt gegen die Wand. Nur: Diese Wand ist eine einzige, von der Decke bis zum Boden reichende Scheibe.

Wenn Hannah Herzsprung sich an diese Szene erinnert, dann denkt sie nicht etwa schaudernd daran, dass Glas brechen kann. Oder dass diese durchsichtige Fassadenwand Dutzende Meter überm Erdboden stand. Nein, sie macht sich leise Vorwürfe. Nicht hoch genug gesprungen sei sie. Und: Ob man es sieht, dass sie ein bisschen abgebremst habe im Anlauf? Und sie probiert Entschuldigungen. Dass sie mit den Stuntleuten diesen Sprung doch drei Wochen lang nicht mehr geübt hatte, nur noch einmal kurz am Abend zuvor memoriert: erst Knie ran, dann die Schulter, schließlich den Kopf wegdrehen! Und dass der Drehtag damals ohnehin lang und extrem ermüdend war.

Nein, als Ausrede ist das nicht gemeint. Nur als Erklärung, warum sie sich nicht perfekt findet in der Szene, anders als jeder, der sie darin sieht. Hannah Herzsprung ist auch nicht zerknirscht, sondern forscht mit eindringlicher Freundlichkeit nach jenem Unterschied zwischen Wunsch und Ergebnis, den nur sie selber fühlen kann. Da ist kein jagender, dominanter Ehrgeiz, sondern eine Art rückwirkendes Lernbedürfnis, eine Gesprächserfahrung für später. Noch einmal zurück in die Jenny schlüpfen, Jenny werden, nur für den Augenblick des Nachdenkens an einem Berliner Morgen im Café. Und „ganz schnell wieder rauskommen“ aus dieser Jenny, das ist fast noch wichtiger.

Kein Wunder: Diese Jenny von Loeben ist der Hammer, vor allem für eine „totale Bauchdarstellerin“, wie die 25-jährige Hannah Herzsprung sich selber bezeichnet. „Wenn ich was nicht fühle, kann ich’s auch nicht spielen“, sagt sie, und zu dieser Jenny muss es ein ganz besonders weiter Weg gewesen sein. Jenny: ein vom Vater jahrelang missbrauchtes Klavierwunderkind, das einen Stricher kennenlernt und schwanger wird und einen Mord auf sich nimmt und im Knast ausrastet, ausrastet, ausrastet. Bis die alte Klavierlehrerin – Monika Bleibtreu spielt sie – auftaucht und versucht, diese Wunde von Mensch auf ihre Weise zu heilen. Aber ja, Jenny ist Hannahs krassestmögliches Gegenteil. Nicht mal Klavierspielen hat Hannah können und die Rolle doch gekriegt (und nachher monatelang Unterricht genommen). Immerhin: Ein eiserner Wille verbindet die Schauspielerin mit ihrer Figur, ein Wille allerdings, der bei Hannah Herzsprung absolut sanft daherkommt.

Nach „Vier Minuten“ (der Film läuft ab Donnerstag im Kino) startet Hannah Herzsprung demnächst noch mit Alain Gsponers Familien-Farce „Das wahre Leben“ (1. März) durch – auch hier gibt sie das wilde Mädchen von nebenan, das familienverkrachte, das künstlerisch begabte, das aggressiv selbstzerstörerische Borderline-Geschöpf. Nach diesen zwei Filmerfahrungen wird sie, wofür es keine Wahrsagergabe braucht, im deutschen Kino mindestens so fulminant dastehen wie Julia Jentsch und Sandra Hüller, die in den vergangenen beiden Jahren jeweils in Berlinale-Filmen entdeckt und gefeiert wurden. Dass sie im vergleichsweise bescheidenen Hof mit beiden Filmen ihre Deutschland-Premiere erlebte, juckt Hannah Herzsprung keineswegs – erstens ist Hof die traditionell erste Adresse fürs junge deutsche Kino, und zweitens hat „Vier Minuten“ vergangenen Sommer schon im Vorbeisausen beim Filmfestival in Shanghai gewonnen. Der Jury-Vorsitzende Luc Besson, für Hannah Herzsprung ein Idol seit dem frühen Lieblingsfilm „Leon – Der Profi“, soll von ihrer Schauspielkunst ganz hin und weg gewesen sein.

Ja, davon kann sie schwärmen, dass sie hat Luc Besson kennenlernen können, schwärmen nicht wie ein Star, sondern wie ein Mädchen von nebenan. Irgendwie will sie das vielleicht auch bleiben – behütet aufgewachsen als Tochter eines TV-Serienschauspielers, eine Hamburgerin in Bayern (mit neuer Heimat Berlin), die auf dem Dorf „wie bei den Kindern aus Bullerbü“ aufgewachsen ist und sogar acht Jahre im Trachtenverein tanzte, um in Bayernland ordentlich sozial eingebettet zu sein. Dort hat sie, fürs Schuhplatteln, sogar den ersten Preis ihres Lebens bekommen. Und dass viele, viele noch folgen dürften, ist nur eine freundliche Frage der Zeit.

Hannah Herzsprungs Selbstbewusstsein: Es ist sehr fühlbar selbstgemacht. Ein typisches Setkind war sie nicht, auch nahm der Vater sie nie auf Theatertournee mit, überhaupt haben die Eltern ihre Entscheidung zum Schauspielberuf keineswegs gefördert. Schule und Studium, darauf kam es – auch ihr selber – an. Nur dass damals, da war sie zwölf, das ZDF einen Film bei Herzsprungs zu Hause auf dem Lande drehte, zwei Monate lang wohnte die kleine Hannah auf dem Set und guckte einer Kinderhauptdarstellerin zu. Da gab es für sie kein Halten mehr. Castings folgten, von denen die Eltern erst nichts wussten (um sich dann doch mitzufreuen) und irgendwann die Serie „Aus heiterem Himmel“, dafür hat Hannah Herzsprung ein paar Jahre Schule fast aufgegeben. Ihr Abitur hat sie aber noch gemacht, sogar sehr ordentlich – im Internat in England. Nach einer kurzen Orientierungsphase, zurück in München, ging es dann doch bald wieder los mit dem Drehen, erst mal fürs Fernsehen.

Risse? Keine. Irgendetwas, das die ungeheure Anverwandlung einer rundum glücksgewöhnten, glücksverwöhnten und ihre Umwelt am liebsten mit Glück verwöhnenden Jungschauspielerin in diese wilden Schmerzensmädchen auf der Leinwand erklärt? Nichts. Es gibt Schauspielertemperamente, deren Biografie sich sofort auf der Leinwand wiederfindet, in jeder Rolle, die sie ihrem Leben durchscheinend überstreifen; und es gibt jenen Typus virtualitätsaufsaugender Vitalität, der mit jeder Rolle auf neugierig neue, möglichst ferne Abenteuerreise geht. Hannah Herzsprung ist ein solch perfektes Medium. Spring gegen die Scheibe, Jenny, heißt es. Und Jenny springt gegen die Scheibe. „Und Jenny wusste ja“, sagt Hannah, „dass sie hält.“

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