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Kultur: Sprung ins Nichts

Alain Claude Sulzer erzählt in dem Berlin-Roman „Aus den Fugen“ von der Kunst des Aufhörens.

Wie schwierig ist es, aufzuhören! Mit einem Laster sowieso, aber auch mit anderen Gewohnheiten, und sei es nur der Müßiggang eines Sommerurlaubs, von dem man plötzlich lassen soll, weil der Alltag ruft. Während jedem Anfang, nach dem wohl berühmtesten Vers von Hermann Hesse, ein Zauber innewohnt, fehlt dem Ende die Verheißung. Es ist wie ein Sprung ins Nichts. Kein Wunder, dass man ihn normalerweise nicht freiwillig tut. Ums Aufhören geht es auch im neuen Roman des Schweizer Schriftstellers Alain Claude Sulzer, der seit seinem Roman „Zur falschen Zeit“ eine feste Größe auch des deutschen Literaturbetriebs ist.

„Aus den Fugen“ ist ein spielerischer, nobler und eminent unaufgeregter Roman über die Kunst des Aufhörens und den nonchalanten Umgang mit dem Alter. Und es ist auch ein Roman über Paare, eine Novelle, um genau zu sein, deren unerhörte Begebenheit sich coram publico in der Berliner Philharmonie zuträgt, mitten in einem Konzert des fiktiven Klaviervirtuosen Marek Olsberg.

Ein Dutzend Figuren lässt Sulzer um Olsberg kreisen. Der ist nur insofern die Hauptfigur, als seine Prominenz die Aufmerksamkeit auf sich zieht und das Konzert an einem Freitag, den 16. September das Leben der anderen beeinflusst. „Aus den Fugen“ ist der Roman eines Tages und einer Nacht, auch wenn er drei Tage vorher im Flugzeug beginnt und sich am Ende in einer „Coda“ auf die Zukunft hin öffnet. Wie in einem Reigen tauchen die Figuren auf und verschwinden wieder, um später abermals aufzutauchen. Ihre Namen bilden die Überschriften der lose miteinander verknüpften Sequenzen. Marek Olsberg steht kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag. Mit dem Alter hat er keine Probleme, zumal er „aufreizend alterslos“ aussieht. Ruhm und Vermögen (Wohnungen in Amsterdam und New York, Immobilien in London, ein gut gefülltes Schweizer Bankkonto) tragen das ihre zu seinem Wohlbefinden bei. Er lebt allein, was ihn nicht weiter stört, ist er doch ohnehin die meiste Zeit unterwegs. Junge Liebhaber findet er leicht, feste Partnerschaften sind ihm zu anstrengend geworden. Und doch macht sich ein Unbehagen in ihm breit. Er hat das Gefühl, eine Entscheidung treffen zu müssen. Nur welche? Das klingt nach einem Luxusproblem.

Tatsächlich sind die meisten Figuren des Romans wohlsituiert. Welche Bedeutung ein sicheres Auskommen für die Entscheidungsfreiheit und das eigene Denken hat, unterschlägt Sulzer nicht. Im Gegenteil. Er betont es sogar und macht es in gewisser Weise zum Prüfstein. Wer, wenn nicht derjenige, der finanziell unabhängig ist, kann aus dem Hamsterrad aussteigen? Und wäre es nicht umso verwerflicher, wenn er es nur um des Ruhmes und der Anerkennung willen nicht täte?

Wenn Marek Olsberg, ziemlich genau in der Mitte des Romans, kurz vor dem Ende der großen Fuge der Hammerklaviersonate, den Deckel des Steinways zuklappt und mit einem saloppen „Das war's“ die Bühne verlässt, hat er das nicht geplant. Es ist ihm einfach geschehen. Als er dann durch die Berliner Nacht stromert, fühlt er sich frei wie nie. Und als er in einer Kneipe zufällig Nico begegnet, dem jungen Geliebten seines Ex-Liebhabers und Agenten Claudius, weiß er, dass sich der Ärger des Publikums bald legen wird: „Was auch immer die Leute sich gedacht haben, am Ende werden sie sagen, sie seien bei einer großen Sache dabei gewesen, Marek Olsbergs letztem Konzert! Das wird ihren kurzfristigen Ärger bei weitem aufwiegen, das Umdenken beginnt schon morgen. Der Ärger verfliegt so schnell, wie er kam. Die Leute kennen nichts als die Gier auf Sensationen, den schnellsten Chinesen, den lautesten Deutschen, den sahnigsten Wiener, die exaltierteste Französin."

Was wie die Pointe des Romans erscheint, ist gewissermaßen seine Achse, um die sich die Trabanten drehen, die das Ereignis aus ihrer Flugbahn katapultiert. Bei den einen geht es nur um einen verpatzten Abend. So bei der von ihrem Mann verlassenen Juristin Solveig, die sich mit ihrer Freundin Esther amüsieren wollte. Oder bei dem Potsdamer Mäzenaten-Ehepaar, das den eigens für den Starpianisten anberaumten Empfang mit Berliner Politprominenz kurzfristig absagen muss. Bei anderen geht es um die Existenz: wie bei eben jener Esther, die ihre Freundin nach dem abgebrochenen Konzert schmählich im Stich lässt, um zum Gatten zurück aufs Sofa zu eilen. Dort liegt aber nur sein i-Phone, mit Mitteilungen, die sie lieber nicht gelesen hätte.

Alain Claude Sulzer braucht nur wenig Worte, um seine Figuren zu charakterisieren. Etwa wenn Esther auf die Frage ihres Gatten, was Olsberg spiele, sagt: „Ich glaube Chopin. Und Beethoven! Keine Ahnung. Noch irgendwas Unbekanntes", und ihre Trefferquote eher ziemlich niedrig ist. Oder die Hausdame des Mäzenatenpaars Olsbergs treuer Sekretärin nicht einmal ein Glas Wasser anbietet, obwohl diese unter so heftiger Migräne leidet, dass sie das unerhörte Ereignis im Tablettenrausch verschlafen hat.

„Aus den Fugen“ ist nicht nur ein leichthändiger Berlin-Roman, sondern auch eine Partitur sozialer Distinktion. Das kann schon mal heißen, dass ein wirklich reicher Mensch einen Dieb nicht anzeigt, sondern ihm die Beute schenkt. Es heißt aber auch, dass Menschen in ähnlicher Lage dazu tendieren, noch das kleinste Fitzelchen am anderen wahrzunehmen, das geeignet ist, sich über ihn zu erheben.

Beeindruckend ist Sulzers Fähigkeit zum Understatement und zum gelassen nebensächlichen Ton. Womöglich glückt es ihm deshalb, das Aufhören als eine Kunst darzustellen, die nur gelingen kann, wenn man die eigene Aufmerksamkeit davon ablenkt. Wer die letzte Sendung des Philosophischen Quartetts, die eben diese Kunst zum Thema hatte, noch in Erinnerung hat, kann dem Grund ihres Misslingens mit diesem klugen Roman höchst unterhaltsam nachsinnen.

Alain Claude Sulzer: Aus den Fugen. Roman. Galiani

Verlag, Berlin 2012.

231 Seiten, 18,99 €.

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