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Kultur: Spuren der Seele

Maler mit Analytikerblick: die grandiose Retrospektive von Lucian Freud im Museo Correr in Venedig

Es muss in der Familie liegen. Doch selbst wenn Lucian Freud nicht der Enkel von Sigmund Freud gewesen wäre: Mit seinen Bildern hat er sich als genialer, ebenbürtiger Psychologe erwiesen. Zum Beispiel in dem Doppelporträt „Two Irishmen“ von 1985. Vater und Sohn, extra angereist, um sich vom bedeutendsten Porträtisten Großbritanniens verewigen zu lassen, fühlen sich erkennbar unwohl im kahlen Atelier im Westen Londons. Der Senior, honorig in Anzug und Weste, krampft mit den Händen die Lehnen des Sessels, der Blick ist versonnen, man kann auch sagen verschlossen nach unten gewandt. Entlarvender jedoch der Junior: Ein schmales, blasses Jüngelchen, wie in Begräbniskluft in viel zu großem schwarzen Anzug, stützt sich mit der Hand auf die Lehne des Sessels. Fast scheint es, als ob er verschwinden wollte hinter der massigen Gestalt des Vaters. Der Blick jedoch, zwischen den abstehenden Ohren, ist direkt auf den Betrachter gerichtet, unsicher, mitleidheischend. Das Drama zwischen Vater und Sohn, Geschäftsgründer und Erben: Auf diesem Porträt ist es mit Händen zu greifen.

Entlarvend, bloßstellend, kalt beobachtend: Lucian Freuds Porträts sind alles andere als gefällig. Dennoch reißen sich alle darum, von ihm gemalt zu werden, die Reichen und Mächtigen der Welt von Kate Moss bis zur Queen – und bekommen nicht selten ein Ergebnis, das sie sich so kaum gewünscht haben werden. Mit Röntgenblick scheint der Maler ins Innere zu blicken, fördert dort Unsicherheit, Verklemmtheit, Angst zutage, zeigt auf der Leinwand genau das, was alle Schminke, aller Charme gewöhnlich zu übertünchen suchen: die Narben, Flecken, Lebensspuren auf der Seele. So malt er schon 1947 seine damalige Verlobte Kitty Epstein als „Girl with Rose“ (das Bild war 1954 auf der Biennale zu sehen, wo Freud gemeinsam mit Bacon und Ben Nicholson den Pavillon von Großbritannien bestückte): die junge Frau starrt mit weit aufgerissenen Augen ins Leere, die Hand mit großem Leberfleck krampft sich um eine Rose, die erkennbar spitze Stacheln trägt. Die Ehe war nicht glücklich, nach zwei Jahren trennt man sich wieder. Eine Vorahnung davon lebt in dem Bild.

Verletzungen sind bei Lucian Freud einbegriffen, im Leben wie in der Kunst. Ehrlich mag man seine Bilder nennen, weil sie nicht schmeicheln, entlarvend, weil sie dem schönen Schein nicht trauen, doch trotz allem sind sie: liebevoll. Aus jedem von ihnen, aus dem Porträts von Freunden, Verwandten, Bekannten, aber auch zufälligen Modellen, Auftragsgebern, Staatsporträts spricht ein beharrliches Interesse, das sich nicht mit zwei schnellen Porträtsitzungen zufrieden gibt. Das gilt für seine Familienbilder, für die Aktbilder seiner Töchter Esther und Bella, für die Porträts der Enkelinnen Alice und Frances, für das großformatige Hochformat, das den Sohn Freddie in voller Größe und christusähnlicher Pose zeigt, sowie für die Bilder von Freunden und Kollegen wie David Hockney und Bruce Bernard. Vor allem aber gilt es für die Bilder der Mutter, die Freud nach dem Tod des Vaters immer und immer wieder porträtiert hat, zum Trost, auch zur Beschäftigung, und als zärtliche Studie eines fortschreitenden Verfalls. Ähnlich aufmerksam, ähnlich ehrfurchtsvoll ist nur Rembrandt dem Alter begegnet.

Eine herausragend bestückte Ausstellung im städtischen Museo Correr in Venedig gibt nun Gelegenheit zur Wiederbegegnung mit dem großen Realisten. Parallel zur Kunst-Biennale, die im Italienischen Pavillon dem Künstlerfreund und -kollegen Francis Bacon ein Denkmal setzt, hat der Kurator William Feaver rund 90 Gemälde zusammengetragen. Der besondere Clou: Die Mehrzahl davon stammt aus Privatbesitz, war so bislang noch nie oder zumindest noch nie in solcher Dichte zu sehen. Die Ausstellung übertrifft darin noch die große Retrospektive, die die Londoner Tate Britain dem Maler vor drei Jahren ausrichtete. Lucian Freud selbst, gewöhnlich höchst öffentlichkeitsscheu, hat sie großzügig mit Leihgaben unterstützt. Francis Bacon zum Beispiel, Freund und Vorbild, ist mit einem frühen Porträt von 1956 vertreten, das nie vollendet wurde: Das wuchtige Gesicht des Künstlers schiebt sich aus verschiedenen Farbflächen zusammen, taucht aus dem Weiß des Untergrunds auf wie eine Fata Morgana. Die Züge jedoch sind unverkennbar und ähneln dem Porträt, das 1986 bei der großen Freud-Ausstellung in der Berliner Nationalgalerie gestohlen und seitdem nie wieder gesehen wurde.

Obwohl: ein Realist? Als solcher ist Freud gefeiert und in Zuge der Debatte um Malerei im 20. Jahrhundert oft fast polemisch in den Vordergrund geschoben worden, als Vertreter eines traditionellen Malereiverständnisses, das sich auf Hals, Rembrandt und Goya beruft. Was für ein Missverständnis. Man muss nur beachten, wie er bei den Porträts aus den frühen sechziger Jahren die Gesichtszüge mit breiten Pinselschlägen ineinander schiebt. Es wirkt, als verschöben sich die Knochen unter der Haut, als beulte sich die Stirnplatte unheilvoll aus, verzöge sich die Nase, spalte sich das Kinn, wucherten Tumore unter der Haut. Sehr ungesunde Bilder, voller innerer Energie, die geschwürartig nach außen dringt. Später ist es eher die Oberfläche, die Freud fasziniert, die Haut in all ihren Schattierungen, Strukturierungen, Unebenheiten. Nicht umsonst gilt er als Meister der Aktmalerei: 1985 porträtiert er eine blonde Frau, die schlafend auf dem Sofa liegt, mit einem hinreißenden Inkarnat, das alle Farben zwischen Lila, Grau, Rosa, Gelb, Weiß und Grün enthält. Und Anfang der Neunziger entdeckt er Sue Tilley, genannt „Big Sue“, und schwelgt in den Massen ihres Körpers, in den Falten, Fettwülsten, weichen Rundungen, durchscheinenden Adern. Fleisch kann hässlich oder schön, grostesk oder majestätisch sein. Es kommt auf den Blick des Malers an.

Bei den Aktbildern entsteht eine weitere Parallele zur diesjährigen Biennale: Der Australier Leigh Bowery, die bekannteste Drag Queen Londons und Anfang der Neunziger Freuds bevorzugtes Modell, ist als Künstler in der von Rosa Martinez kuratierten Ausstellung „Always a little further“ im Arsenale vertreten. Dort sind die bizarren Kostüme, die schrillen Auftritte in Londoner Untergrund-Clubs, die ganze Selbststilisierung des Künstlers zu erleben, der 1993 an Aids starb. Lucian Freud dagegen porträtiert ihn nackt, eine massige, männliche Figur, als „Bräutigam“ breit ausgestreckt auf seinem Hochzeitsbett, während sich die junge Braut wie ein Vögelchen schutzsuchend zusammenschmiegt. Die Zusammenarbeit zwischen Bowery und Freud endete bald: Zu stark prallten die beiden Alpha-Tiere aufeinander, auch war der schon erkrankte Bowery kaum mehr in der Lage, die langwierigen Sitzungen durchzuhalten. Als Angeber, als Machtmensch hat Freud ihn auch als Aktmodell porträtiert – und ihn doch glorifiziert in seiner grandiosen Körperlichkeit. Leigh Bowery mag sich bei seinen Auftritten in allen möglichen Kostümen verkleidet haben: Lucian Freuds Analytikerblick hat die Maskerade durchschaut.

Lucian Freud, Museo Correr Venedig, bis 30. Oktober. Katalog (Electa) 45 Euro.

Christina Tilmann

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