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Kultur: Spurlos weg: der Anfang in der DDR

Gerhard Richters bereinigter Werkkatalog.

Seit Jahren zählt Gerhard Richter zu den weltweit gefragtesten Künstlern. In der kommenden Woche feiert er seinen 80. Geburtstag, und die große Werkschau, die die Londoner Tate Modern im vergangenen Herbst ausgerichtet hat, wird dann passgenau in der Neuen Nationalgalerie Berlin wiedereröffnet. Zudem ist jetzt der erste Band eines Oeuvreverzeichnisses erschienen, der die Jahre 1962 bis 1968 abdeckt, mit allerdings lediglich 198 Katalognummern. Weitere vier Bände sollen bis 2018 folgen – angesichts der Produktivität Richters mit bislang 3400 Arbeiten eine überschaubare Zahl.

Erarbeitet wird das Werkverzeichnis vom Gerhard-Richter-Archiv der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (Hatje Cantz Verlag, Ostfildern 2011, 512 S. m. 539 Abb., 248 €). Der Verfasser, Dietmar Elger, hat bereits 2003 begonnen, Richters Oeuvre zu erschließen. Das Dresdner Institut „entstand mit großzügiger Unterstützung Gerhard Richters und arbeitet bis heute eng mit dem Kölner Atelier des Künstlers zusammen“, heißt es zur Präsentation des ersten Bandes. Das klingt sinnvoll, birgt jedoch Gefahren.

Genau darauf zielt die Kritik des renommierten Londoner Fachmagazins „Art Newspaper“: Die frühen Arbeiten Richters fehlen im Werkverzeichnis. Sie entstanden in und nach dem 1956 abgeschlossenen Studium an der Dresdner Hochschule für Bildende Künste. Im selben Jahr malte Richter das Wandbild „Lebensfreude“ im Deutschen Hygienemuseum Dresden, ganz im Stil des Sozialistischen Realismus der Ulbricht- Zeit. Richter hatte damit keine Probleme. Erst nach dem Wandbild „Arbeiteraufstand“ für die Parteizentrale der SED besucht er die „Documenta II“ in Kassel 1959 – und ist, wie er später stets betont, „fasziniert“. Im März 1961 verlässt Richter mit seiner Frau die DDR und geht nach Düsseldorf.

In der Tate Modern war erstmals eine Serie von vier Linolschnitten aus dem Jahr 1957 zu sehen – abstrakt wohlgemerkt und ohne Bezug zu Richters damaligen Auftragsarbeiten. Der Werkkatalog beginnt denn auch, wie Richter es will, mit dem ersten „westdeutschen“ Gemälde „Tisch“ von 1962, das ein naturalistisches Tischabbild zeigt, von Farbstrudeln übermalt. Ein Statement.

Als „Statement eines künstlerischen Neubeginns“ bezeichnet es jedenfalls Verfasser Dietmar Elger im Werkverzeichnis, ganz im Sinne Richters, der sich vier Jahrzehnte lang demonstrativ als Westkünstler verstand und erst 2004 Dresden besuchte und dort ausstellte. Seither allerdings entwickelte er eine späte Liebe zu seiner Heimatstadt. Zur Aufnahme des ansehnlichen Frühwerks ins Oeuvreverzeichnis hat es jedoch nicht gereicht.

Offenbar bleiben auch zahlreiche spätere Bilder ab 1962, die Richter zum Teil zerstört hat, außen vor. So ist das Werkverzeichnis, wie „Art Newspaper“ bemängelt, kein unanfechtbarer Oeuvrekatalog, sondern dessen verschlankte Form mit den vom Künstler „anerkannten“ Gemälden. „Die beiden unabdingbaren Tugenden eines catalogue raisonné sind Vollständigkeit und nachvollziehbare Methodik“, urteilt der Kritiker Alexander Adams’ in „Art Newspaper“ scharf. „Diesem Katalog mangelt es an beidem.“

Immerhin umfasst der vorliegende Band die spannendste Werkphase Richters, geprägt von seinen nach Fotos entstandenen Gemälden. Die Einarbeitung seiner NS-belasteten Familiengeschichte ist mittlerweile wohlbekannt. Sie hat Richter als einen der politischsten Künstler der Gegenwart etabliert – was dessen späterer Gemäldezyklus zur RAF, „18. Oktober 1977“, nur unterstrichen hat. Umso problematischer ist denn auch der mangelnde Bezug zu Richters Fotosammlung unter dem Titel „Atlas“, die mittlerweile 738 Tafeln mit rund 15 000 Aufnahmen umfasst. Richter hat den „Atlas“, in dem enorm viel an Zeitgeschichte und NS-Vergangenheit steckt, immer wieder als Quelle für eigene Bildideen benutzt.

Getrennt vom Werkverzeichnis erschien soeben der – zum Glück vollständige – Katalog zum „Atlas“, (Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln, 862 S., 49,80 €). Die Bildersammlung selbst wird heute Abend von den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden eröffnet – und zwar im Lipsius-Bau neben der Akademie, an der Richter einst studierte. Allein diese Nachbarschaft macht den Unsinn deutlich, Richters ostdeutsches Frühwerk auszublenden. Bernhard Schulz

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