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Kultur: Sraßenpoeten

Die beste Reportage: der Lettre Ulysses Award 2006

Den Siegerpokal überreicht Ryszard Kapuscinski, Meister der literarischen Reportage, der Britin Linda Grant. „People on the street“ heißt ihre Geschichte, in der sie sich – aus der Perspektive einer Diaspora-Jüdin – auf die Suche nach der israelischen Identität begibt. Sie schreibt von den zwei Persönlichkeiten in den Köpfen junger israelischer Soldaten, dem militärischen und dem zivilen Ich. Und von der „seelischen Schramme“, die der Militärdienst ihnen zufügt.

Im Berliner Tipi am Kanzleramt wurde am Samstag der „Lettre Ulysses Award“ verliehen: Seit seiner Premiere 2003 hat der „Nobelpreis für Reportageliteratur“ an internationalem Renommee hinzugewonnen. Was an der hochkarätig besetzten Jury liegt, an der Qualität der ausgezeichneten Texte (2005 gewann die Britin Alexandra Fuller) und an der Dotierung mit insgesamt 100 000 Dollar. Hinzu kommt, dass das gewöhnliche Geschäft mit der Reportage immer zynischer geworden ist. So zitiert ein Reporter im Flüsterton einen Korrespondentenspruch, den er während des Kriegs auf dem Balkan gehört hat: „Is anybody here who has been raped and speaks English?“

In den Wirren der globalisierten Welt, sind sich die Festredner einig, steigt der Bedarf an Zwischentönen, die der durchformatierten Mediensprache trotzen. „Lettre“-Chef Frank Berberich – die Kulturzeitschrift richtet den Preis aus – beschwört den Typus des weltreisenden Reporters: Er ist Ethnologe, Wissenschaftler, Detektiv, Spion, Dramatiker, Romancier. Und macht, so die schottische Jurorin Isabel Hilton, aus dem Erlebten eine Geschichte, kritisch recherchiert, evokativ, authentisch und präzise formuliert.

Ein hoher Anspruch: Auf der Shortlist standen sieben Geschichten aus der Wirklichkeit (sechs davon sind in „Lettre“ auszugsweise abgedruckt). Die nepalesische Autorin Manjushree Thapa beschreibt in „Forget Kathmandu“ so persönlich wie nüchtern die Situation ihres Landes. Der Österreicher Karl-Markus Gauß berichtet vom Elend slowakischer Roma. Wenn der Pekinger Zhou Qing sagt, seine Reportage über Insektizide, Kot und Opium in chinesischem Essen sei auch eine Anklage des Politsystems seiner Heimat, schützt ihn das Prestige des „Ulysses Award“ hoffentlich vor Repressalien. Gleiches gilt für Li Datong, der aufschrieb, wie er als Chefredakteur der Zeitung „Bingdian“ entlassen wurde, weil er die Wahrheit über die Korruption in China schreiben wollte.

Der dritte Preis ging an Juanita León, die sich in „Land aus Blei“ dem Leiden der kolumbianischen Landbevölkerung im unübersichtlichen Bürgerkrieg nähert. Den zweiten Preis erhielt der Franzose Erik Orsenna für seine „Reise ins Land der Baumwolle“, bei der er unentwegt auf Spuren der Globalisierung trifft. Und Linda Grant, die sichtlich bewegte Siegerin, widmet den Preis der deutschen Anonyma, die in ihren Tagebuchaufzeichnungen „Eine Frau in Berlin“ erzählt, wie sie – als die Rote Armee Auschwitz befreite – von russischen Soldaten vergewaltigt wurde.

Menschen sind komplex. Grants Geschichte handelt von „menschlichem Leid, das diejenigen verursachen, die selbst leiden“.

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